A Perfect Day
Der perfekte Tag begann an einem totstillen, finsteren, naßkalten und beklemmenden Ort. Den Wechsel zwischen hell und dunkel auf der anfangs nur spärlich beleuchteten Leinwand konnte ich immerhin noch gut ausmachen. Wasserrinnsale plätscherten die nackten Wände herunter und ich war froh, in dem gut beheizten und trockenen Kinosaal zu sitzen. Die unheimlich hallende Akustik tat ihr Übriges, als Metall auf Metall stieß, und ich an einen unterirdischen und engen Raum mit hohen Wänden denken mußte. Getippt habe ich auf eine Kanalisation. Zum Glück konnte sich die Idee nicht durchsetzen, den Filmgenuß im Kinosaal noch mit den entsprechenden Düften zu steigern. Aber ich hatte mich vertippt. Es ist ein Brunnen. In den ist zwar kein Kind gefallen, aber ein Mann geworfen worden. Der Mann ist tot, das erklärt schon einmal den fehlenden Dialog. Gesprochen wird erst, als das Tageslicht die Leinwand erhellt. Um den Brunnen herum beratschlagen die Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation (NGO), wie der leblose bereits verwesende Körper schnellstmöglich geborgen werden kann. Ansonsten stünde die Trinkwasserversorgung aller Bewohner eines Dorfes irgendwo in Bosnien auf dem Spiel. Beim ersten Versuch ist der Tote der Stärkere, genauer gesagt der Schwerere, und entscheidet die Zerreißprobe des einzigen weit und breit aufzutreibenden Seiles für sich. Die Helfer brauchen ein Zweitseil, das dem Fettsack, wie sie ihn nennen, standhält. Ihre abenteuerliche Autofahrt durch das bergige unwegsame Bosnien auf der Suche nach einem tauglichen Seil zieht sich ab jetzt als roter Faden durch das Filmgeschehen. Zeitlich fällt die Seilsuche in das Jahr 1995, in dem die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe unter den sechs jugoslawischen Teilrepubliken nach drei Jahren ein Ende fanden. Ein Ende fand damit auch die 1945 ausgerufene Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien. „Jugo“ heißt übersetzt Süden, die Slawen sind slawischsprachige Volksstämme und fertig war das Kunstgebilde Jugoslawien: Ein Mix unterschiedlichster ethnologischer und religiöser Volksgruppen, deren einzige Gemeinsamkeiten die südliche geographische Lage und die slawische Sprache waren. In dem Gebiet des heutigen Staates Bosnien-Herzegowina wüteten die Kämpfe besonders lange und grausam. Deshalb stationierte man zur Sicherung des Friedensprozesses die IFOR und verschiedene Hilfsorganisationen versuchten, das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern. Auf die Seilsuche begeben sich die prominent besetzten NGO-Mitarbeiter Mambrú (Benicio del Toro), B (Tim Robbins) und Sophie (Mélanie Thierry). Später gesellen sich noch Katya (Olga Kurylenko), ein Dolmetscher und ein kleiner einheimischer Junge zu der Seilschaft. So wie bei „Er ist wieder da“ der gleichnamige Hit von Marion Maerz aus der Versenkung geholt wurde, hätte das hier mit dem Song „Perfect Day“ von Lou Reed aus dem Jahr 1972 wiederholt werden können. Aber „Hätte, hätte, Fahrradkette“, ein Zitat des Genossen Peer Steinbrück aus seiner Zeit als Kanzlerkandidat! Lou Reed besingt in “Perfect Day” seinen höchstpersönlich perfekten Tag, leider ohne zu verraten, wer oder was genau diesen Tag so perfekt macht. Im Film wird dank des Jungen, der die NGO-Leute zu seinem verlassenen Elternhaus führt, das perfekte Seil für den zweiten Versuch gefunden. Problematisch ist nur, daß das Seil an einer Seite irgendwo angebunden ist, während an dem anderen Ende ein gefährlich bellender wütender Hund hängt. Im nächsten Moment macht das Helferteam in dem ziemlich zerstörten Haus einen grausigen Fund. Die Figuren nehmen den Zuschauer mit in ihre ständig wechselnden Gefühlslagen und es wird einem nichts erspart. Oft kann man sich bei den grotesk komischen Situationen auch das Lachen nicht verkneifen. Begleitet werden die Protagonisten von der perfekt ausgewählten und immer passenden Musik. Lou Reed singt zwar nicht solo, ist aber einige Male als Sänger und Mitbegründer der Band „The Velvet Underground“ zu hören. Die psychedelischen, ruhigen und leisen Klänge werden je nach Stimmung des Filmes vom lauten, chaotischen, fast zerstörerischen Punkrock der Ramones, von Marilyn Manson oder den Buzzcocks abgelöst. Dazwischen ist wieder der melodischere Gesang von Gogol Bordello mit einem leicht folkloristischen Einschlag zu hören. Ein außergewöhnlicher Film verlangt eben nach der entsprechenden Musik. Ein Tag ist für die Helfer wohl schon dann perfekt, wenn sie nicht auf eine der vielen Landminen auffahren, nicht von marodierenden Soldaten überfallen werden, und trotz aller bürokratischen Hindernisse wenigstens ein bißchen helfen können. Dem spanischen Drehbuchautor und Regisseur Fernando León de Aranoa ist es gelungen, solch einen perfekten Tag so glaubhaft und traurig wie leise und humorvoll zu zeigen. Die Romanvorlage zum Film stammt von Paula Farias, die in ihrem Buch „Dejarse Llover“ (Laß es regnen) über ihre eigenen Erfahrungen als Mitarbeiterin von „Ärzte ohne Grenzen“ schrieb. Der Film entläßt das liebenswerte Helferteam mit dem Auftrag, sich um die verstopften Latrinen in einem eilig errichteten Flüchtlingslager zu kümmern. Ich konnte noch einmal aufatmen und die gute Luft im Kinosaal einatmen. Popcorn statt Latrine! Was für ein perfekter Kinoabend!