Blog Blindgaengerin

Februar 2018

Die Blindgängerin im Laufschritt vor drei großen Werbetafeln. Von einer spannt sich ein roter Faden zu ihr, das Knäuel hält sie in der linken Hand. Unter dem Arm trägt sie ein großes Paket Papiertaschentücher. In der rechten Hand hält sie ein aus Pappe geschnittenes Stundenglas, eine Sanduhr.

Aufholjagd

Zweimal mit, einmal ohne, und noch einmal mit! Mit einer Hauruckaktion habe ich meinen cineastischen Rückstand so gut wie wettgemacht. Dabei waren diese internationalen, im Original englischsprachigen Filme: „Die dunkelste Stunde“, „Der seidene Faden“, „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ und „Wunder” In allen vier tragen die Protagonisten die unterschiedlichsten Kämpfe aus und bei dreien konnte ich das ganz genau mit einer Audiodeskription über die App Greta verfolgen. Mit 66 Jahren ist noch lang noch nicht Schluss! Ein halbes Jahr vor seinem 66. Geburtstag begann für Winston Churchill ziemlich überraschend seine Karriere als britischer Premierminister, am 10. Mai 1940. An diesem geschichtsträchtigen Tag wurde er von König Georg VI. in das höchste Amt berufen. Churchills Vorgänger Chamberlain, ebenso Mitglied der konservativen Partei, hatte 24 Stunden zuvor am 9. Mai nicht ganz freiwillig seinen Hut genommen. Was für ein gerade aus heutiger Sicht wahnwitziges Tempo! Aber die Tage vor und nach Churchills Ernennung wurden um so heftiger für Intrigen und parteiinternes Geklüngel genutzt. Die Dramatik dieser kurzen Phase führt uns sehr detailliert und höchstspannend „Die dunkelste Stunde“ vors Auge. Treffender hätte man die damalige Lage der britischen Nation nicht ausdrücken können! Die Filmhandlung orientiert sich an dem Werk „Fünf Tage in London“ des Historikers John Lukacs. So kämpfte Churchill als designierter und bestätigter Premier an drei Fronten: Die englische Armee vor ihrer Vernichtung retten und eine drohende deutsche Invasion abwenden, den „Kuschelkurs“ seiner politischen Gegner mit Hitler beenden und diesen um jeden Preis besiegen und schließlich das Parlament und die Bevölkerung von der Alternativlosigkeit seiner Strategie überzeugen und auf harte Zeiten einschwören! Im Film kämpft der ein paar Jahre jüngere Gary Oldman auf faszinierende Weise wie Churchills Doppelgänger! Fünfmal wurde Oldman für diese Leistung bereits ausgezeichnet, z.B. mit dem Golden Globe, nun fehlt nur noch der Oscar. Mir war es jedenfalls eine Ehre und ein großes Vergnügen, den wortgewandten Churchill auch durch die Hörfilmbeschreibung so genau und persönlich kennengelernt zu haben: Sein eiserner Wille, sein Humor und die große Liebe zu seiner Frau Clementine, wunderbar gespielt von Kristin Scott Thomas, deren Rat und Meinung er sehr schätzte. Und übrigens halten sich auch Premierminister im Badezimmer und auf dem stillen Örtchen auf. Sie laufen im langen Nachthemd durch ihre privaten Gemächer, natürlich immer mit einer Zigarre zwischen den Lippen und einem Drink in der Hand! Mit 77 trat Churchill im Jahr 1951 ein zweites Mal das Amt des Premierministers an. Da waren die Zeiten, in denen Englands Schicksal an dem sprichwörtlichen seidenen Faden zu hängen schien, längst vorbei. In diese Londoner Nachkriegszeit der 50er Jahre ist die rein fiktive Geschichte von „Der seidene Faden“ eingefädelt, in der Nadel und Faden tatsächlich zum Einsatz kommen! Die wundervollsten Kleider aus den feinsten Stoffen (Natürlich gleicht nicht ein einziges dem anderen!) werden der noblen und prominenten sehr betuchten Damenwelt auf den jeweiligen Leib geschneidert. Mit der Rolle des Reynolds Woodcock, Londons gefragtesten Meisters des seidenen Fadens, verabschiedet sich einer der gefragtesten Schauspieler! Mit 60 machte Daniel Day-Lewis letztes Jahr überraschend Schluß mit seiner Filmkarriere. Aber vorher zeigt der dreifache Oscargewinner – immer mit einem Schnittmuster, einem Maßband und Stecknadeln bewaffnet – noch einmal, was er kann, und vielleicht gibt’s dafür ja noch einen! Die Geschäfte des Modesalons „House of Woodcock“, das Reynolds gemeinsam mit seiner nicht nur im Geschäft allgegenwärtigen Schwester Cyril führt, florieren prächtig. Dem attraktiven Mittfünfziger scheint alles eher kampflos in den Schoß zu fallen und auch die Herzen der Frauen fliegen ihm einfach so zu. Gekämpft wird hier vom weiblichen Geschlecht und zwar auf eine Weise, wie es wohl nur dieses vermag. Der Name der Kämpferin ist Alma. Die junge natürliche Frau, gespielt von Vicky Krieps, begeisterte mich genauso schnell wie den Schneider Reynolds. Sie will nicht nur wie eine Schaufensterpuppe aus Fleisch und Blut als Modell für die Entwürfe seiner Kleider und Kostüme fungieren. Sie liebt Reynolds und möchte eigentlich nur das Normalste der Welt, eine Beziehung mit ihm auf Augenhöhe. Almas Waffen sind Provokation, Zurücksticheln, Reynolds Geduldsfaden zum Reißen bringen, selbst gesammelte und zubereitete Pilze und zum rechten Zeitpunkt Umgarnen. Aber das mit den Pilzen ist nur halb so wild! Jetzt bin ich jedenfalls hinsichtlich der Mode in den 50ern völlig up to date. Natürlich wurden auch die Damen, die in den Kleidern steckten, genau beschrieben und so erfuhr ich auch von Cyrils kleinen Fältchen um ihren Mund. Über das Aussehen der nächsten oscarverdächtigen Kämpferin – den Golden Globe erhielt sie bereits im Januar – konnte ich mir leider nur durch ihre Stimme ein Bild machen. Diese Spekulationen gehen sehr oft an der Realität vorbei und deshalb lasse ich es lieber sein. Mildred Hayes kämpft in der fiktiven US-amerikanischen Kleinstadt Ebbing mittels “Three Billboards Outside Ebbing, Missouri” um die Aufklärung des sieben Monate zurückliegenden grausamen Mordes an ihrer Tochter. Auf drei vor der Stadt aufgestellte Plakatwände schreibt sie kurz und knackig ihre provokanten Parolen und stellt damit den ihrer Meinung nach untätigen Sheriff an den Pranger. Ob sie diesen Weg gewählt hätte, wenn sie sich über die Folgen im Klaren gewesen wäre? Vielleicht lag es an der fehlenden Bildbeschreibung, daß ich die Begeisterung über Frances McDormand in der Rolle der Mildred und auch über den Film nicht so ganz teilen kann. Obwohl ich schwarzen Humor eigentlich sehr liebe! Dafür hat mir die ebenfalls für den Oscar nominierte Filmmusik super gut gefallen, für die ich ganz Ohr sein konnte. Und zu guter Letzt noch einmal „mit“: Mit der App Greta und auf Empfehlung auch mit einem großen Päckchen Taschentücher! Eigentlich kämpft die vierköpfige Familie Pullman gemeinsam mit Hündin Daisy schon auf sehr berührende Weise. Aber den Löwenanteil muß der zehnjährige Junge August, „Auggie“ genannt, alleine schultern und das schafft er auch in „Wunder“. Bei einer zufälligen Begegnung mit Auggie hätte ich mir gedacht, was für ein sympathischer Junge das ist, und ein pfiffiges Kerlchen obendrein! Der ist in der Schule bestimmt sehr beliebt und hat viele Freunde. Aber seine Klassenkameraden sind nicht blind. Sie sehen, was ich durch die Audiodeskription erfuhr, und Auggies erste Tage an der Schule sind alles andere

Aufholjagd Read More »

Vor einer weißen Hausfassade hängt eine Strickleiter. Zwischen den Sprossen sitzen schwarze Notenzeichen wie auf Notenlinien. Die Blindgängerin steht daneben und versucht, ihr rechtes Bein möglichst weit und hoch zu strecken.

Licht

Was für ein Spagat par excellence, von einer Strickleiter hin zu den Tonleitern! Vor einem Jahr wollte Maria Dragus über eine aus Stricken geknüpfte Leiter in eine Galerie einbrechen. In „Tigergirl“ machte sie als Vanilla die Straßen Berlins unsicher. Ich kann mir gut vorstellen, daß sie in den wilden Kampfszenen ihr akrobatisches und tänzerisches Können auch mit dem einen oder anderen Spagat unter Beweis gestellt hat. Hier geht es allerdings um den Spagat im übertragenen Sinn! Ich hatte noch genau das „Bäm!“ im Ohr, ihren nichts Gutes verheißenden Schlachtruf. Aber sobald Maria Dragus in “Licht“ zu sprechen begann, war sie für mich nur noch die von ihr hier verkörperte 18-jährige Wiener Pianistin Maria Theresia Paradis. Die Worte kommen ihr als Resi, wie sie kurz genannt wird, eher zurückhaltend und mit einem ungemein liebenswerten dezent österreichischen Akzent über die Lippen. Davon gibt es hier die erste der vom Farbfilm Verleih zur Verfügung gestellten Kostproben. Aber Vorsicht, der Ausschnitt ist reines Ohrenkino, ohne Bild! Der Originalton des Filmes und die Sprecherin der Audiodeskription sind zu hören. Letztere bekam ich im Kinosaal per Kopfhörer über die App Greta und Starks im mein Ohr. Ich hatte von der im Jahr 1759 in Wien geborenen Pianistin, Komponistin, Sängerin und Musikpädagogin noch nie gehört. Im Wiener Musikleben dagegen war Resi Paradis sehr prominent und mit Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart bekannt. „Am Anfang war die Nacht Musik“, ein Roman von Alissa Walser über das außergewöhnliche Leben der Maria Theresia Paradis! Zu beachten ist beim Buchtitel die Trennung von „Nachtmusik“ in zwei Worte. Es ist überliefert, daß die Pianistin mit drei Jahren „über Nacht“ aus nie ganz geklärten Gründen erblindete. Sie hatte zwar das Glück, schon als junges Mädchen musikalisch gefördert zu werden, mußte aber hauptsächlich nach dem Willen ihres Vaters, eines kaiserlich-königlichen Hofbeamten, einige qualvolle wie erfolglose medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen. Als letzten Ausweg übergaben die Eltern ihre inzwischen 18-jährige Tochter in die Obhut des wegen seiner neuartigen Methoden umstrittenen Arztes Franz Anton Mesmer. Mit „Am Anfang war die Nacht Musik“ hat alles angefangen. Der historische Stoff dieses Romans mit Figuren, die es wirklich gegeben hat, inspirierte die Regisseurin Barbara Albert zu ihrem Film „Licht“, in dem sie sich auf Resis Aufenthalt in Mesmers Haus beschränkt. In ihrem Roman schreibt Alissa Walser abwechselnd aus der Perspektive des Mediziners Mesmer und der Patientin Paradis. Für Barbara Albert war die Figur der Resi die Spannendere, die sie gleich in ihr Herz schloß, und auf die sie sich deshalb in ihrem Film konzentriert. Ich tue das in meinen weiteren Ausführungen jetzt auch, obwohl das Franz Anton Mesmer (Devid Striesow) nicht ganz gerecht wird. Nach einigen Behandlungen, bei denen sich der Arzt eines magnetischen Fluidums bedient, vermag Resi zunächst wieder Licht und allmählich auch ihre Umgebung wahrzunehmen. Aber genauso schön ist es zu beobachten, wie sie – zum ersten Mal von ihren Eltern getrennt – aufblüht und Selbstvertrauen gewinnt. Auch das ist Mesmers Verdienst. Gleich in der ersten Sitzung öffnet sie sich ihm mit den beklemmenden Worten: „Wer nichts sieht, wird nicht gesehen, und wer nicht gesehen wird, wird auch nicht gehört, der lebt nicht.“ Und das bildet sie sich leider nicht nur ein. Beim Vorstellungsgespräch in Mesmers Haus ergreifen ausschließlich ihre Eltern für sie das Wort! Dazu Hörschnipsel 2: Aber am Klavier fühle sie sich wie ein General. Und das bekommt Mesmer bei dem Duett, der für mich schönsten musikalischen Einlage, auch zu spüren! Dazu der wunderschöne Hörschnipsel 3, bei dem mir die insgesamt sehr gut gemachte Audiodeskription besonders gefällt. Als ob die Sprecherin mit ihrer schönen Stimme die Musizierenden begleitet, ohne sie dabei zu stören! Ich denke, dieser Moment zählt zu Resis glücklichsten. Sie fühlt sich wohl im Hause Mesmer und die ersten zarten Erfolge der Behandlung stellen sich gerade ein. Noch wirkt sich die Verbesserung ihrer Sehkraft nicht negativ auf ihr virtuoses Klavierspiel aus. Resis Augen! Den typischen blinden Blick kann es schon alleine wegen der vielfältigen Ursachen für eine Erblindung mit den unterschiedlichsten Auswirkungen nicht geben. Resis Augen werden natürlich immer wieder beschrieben und das hört sich so an: Ihre geröteten Augen wandern ziellos umher, ohne etwas zu fixieren. Sie wirken trüb und glasig. Ihr Blick bewegt sich nicht. Ihre Augenlieder flattern. Unbeholfen folgen ihre Augäpfel ihrer Hand dicht vor ihren Augen. Das Bild ist erst verschwommen, dann wird es klar. Ihre Augen fokussieren einen Gegenstand. Unruhig rollen ihre Pupillen hin und her. Im Profil schimmert ihr Augapfel weiß. Ich habe zwar auch einem blinden Menschen noch nie direkt in die Augen geschaut, aber das klingt für mich sehr plausibel, gut gelöst und vor allem nicht übertrieben. Spannender für mich und überzeugend dargestellt fand ich, wie sie sich anfangs vorsichtig tastend bewegt und später Schrittchen für Schrittchen auch alleine ihre Umgebung erforscht. Sie erfährt, daß Dinge, die sie sieht, weiter entfernt sind, als sie vermutet, und gerät über einen Misthaufen auf einer Wiese in Entzückung! Maria Dragus ließ sich übrigens von der Fachfrau Silja Korn beraten! Zwei Seelen in meiner Brust! Wenn zugegebenermaßen auch ein bißchen neidisch, ich habe mich mit Resi über jede noch so kleine Besserung ihres wiedergewonnenen Augenlichts gefreut. Vereinzelte Äußerungen von Blinden, die keinen Wert darauf legen, sehen oder wieder sehen zu können, kann ich nicht nachvollziehen. Und auch bei Resi hörte ich einige Male Sehsüchte heraus. Das heißt natürlich nicht, daß Resi und ich mit unserem Schicksal hadern und jammern. Weil das Klavierspielen ihr Leben ist, ist Resis Verzweiflung entsprechend groß, als sie feststellt, ihre Hände beim Spielen nicht mehr wie gewohnt unter Kontrolle zu haben. Ich war hin und hergerissen, ob ich dieses Leid genauso wie ihre Freud mit ihr teilen kann oder soll. Denn dies hätte auch eine nur vorübergehende Phase der Irritierung sein können. Schließlich ist ihr musikalisches Talent nicht auf ihre Blindheit zurückzuführen. Dieses wäre nur ohne ihre Erblindung als kleines Mädchen und der damit einhergehenden frühen musikalischen Förderung nicht zu Tage getreten. Aber Resi braucht mein Mitleid überhaupt nicht! Selbstbewußt verläßt sie nach geschätzt zwei, drei Monaten Mesmers Haus und kennt jetzt

Licht Read More »

Nach oben scrollen