Blog Blindgaengerin

Mustang

Es ist wieder einmal soweit und das Schuljahr geht mit dem lang herbeigesehnten letzten Tag vor den Sommerferien zu Ende.
Entsprechend hoch ist der Geräuschpegel auf dem Gelände einer Schule im ländlichen Norden der Türkei, wo sich die Schüler und Lehrer ausgelassen und mit viel Gelächter für die nächsten Wochen voneinander verabschieden.

Als der Rocksänger Vincent Damon Furnier im Jahr 1972 in die Welt schrie
„School’s out for summer”, war die Schulzeit für ihn schon seit einigen Jahren Geschichte.
Aber wir Schüler von damals hatten nun für diesen Tag eine Rockhymne und der amerikanischen Band Alice Cooper gelang damit der internationale Durchbruch.
Schon kurze Zeit später löste sich die Band auf und Furnier begann offiziell unter dem Namen Alice Cooper seine Solokarriere.
Auch wenn ich an meine Schulzeit nicht besonders wehmütig zurückdenke, freue ich mich wahrscheinlich gerade deshalb immer wieder, diese Hymne im Radio zu hören.

Ohne Hymne, aber umso fröhlicher machen sich die fünf Schwestern Lale, Nur, Ece, Selma und Sonay gemeinsam mit einigen Jungs und Mädels von der Schule auf den Heimweg.
Sie haben das Glück, bereits dort zu sein, wo sich die meisten ihrer Altersgenossen für die Sommerferien erst noch hinstauen müssen, bei glühender Hitze auf den Rückbänken der elterlichen Fahrzeuge.
Das abgelegene Dorf im Norden der Türkei, in dem sie seit dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren bei der Großmutter leben, liegt nur einen Katzensprung entfernt von einem wunderschönen Sandstrand an der Schwarzmeerküste.
Züchtig, ohne sich zuvor der Schuluniformen zu entledigen, stürzen sich die jungen Leute in die Fluten und veranstalten eine Wasserschlacht.
Auf den Schultern der Jungs sitzend, versuchen die Mädchen unter großem Gejubel, sich gegenseitig ins Wasser zu schubsen.
Nicht Big Brother, sondern viel schlimmer, eine Dorfbewohnerin beobachtet den harmlosen und unbekümmerten Badespaß, der in ihren Augen ein obszönes und höchst verwerfliches Verhalten darstellt.
Als die Mädchen gut gelaunt in das Haus ihrer Großmutter stürmen, hat die Spionin dort bereits ganze Arbeit geleistet.

Ab sofort heißt es nicht nur „School’s out for summer“ sondern, genau wie weiter im Songtext von Alice Cooper, auch „School’s out forever“!
Füllfederhalter, Schulhefte und Bücher, coole Klamotten, Handys und Computer, einfach alles, was man als moderner Teenager so braucht, ist schlagartig tabu.
Stattdessen wird die hohe Kunst des Füllens von Weinblättern, Paprikaschoten und Bettdecken gelehrt.
Das Haus der Großmutter verwandelt sich hauptsächlich auf Betreiben ihres Sohnes, also des Onkels der Mädchen, so nach und nach zu einem Hochsicherheitstrakt.
Das Schlimmste ist jedoch, daß geheiratet werden soll, was man den Mädels vor die Nase setzt.

Aber der böse Onkel und die im Grunde ihres Herzens eigentlich gutmütige Großmutter haben die Rechnung ohne die Fünferbande gemacht.
Wie eine Herde freiheitsliebender Mustangs versuchen sie, die Zügel abzustreifen und den gegenständlichen wie seelischen Mauern mit viel Fantasie und noch viel mehr Witz zu entfliehen. Dabei haben sie genauso wie der Zuschauer viel Spaß und eine erstaunlich gute Erfolgsquote.

Die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven erzählt in ihrem überwiegend fiktiven Film sehr berührend von den Schicksalen ihrer fünf Filmmädchen. Sie gewährt einen Einblick in die immer noch männerdominierte Gesellschaft, vor allem in den ländlichen Gebieten der Türkei, wo Weiblichkeit sehr oft auf Sexualität reduziert wird.
Sie weiß, wovon sie spricht. Als Tochter eines türkischen Diplomaten wurde sie in Ankara geboren und wuchs abwechselnd in der Türkei, den Vereinigten Staaten und Paris auf.

Für mich und natürlich alle Kinoblindgänger wurde dank der Audiodeskription und mit der App Greta die Jalousie hochgezogen und so hatte auch ich freie Sicht durch das Fenster in diese andere Welt.
Der Sprecher hat zwischen dem Geplapper und Gelächter der Mädchen gerade noch ausreichend Zeit zu erzählen, wer wo was gerade wie tut, oder einfach nur die wunderschöne Landschaft zu beschreiben.
Außerdem ist da noch Lale, die 12-jährige und damit jüngste der Schwestern, die als Erzählerin durch die Geschichte führt. Hilflos muß sie mit ansehen, wie eine Schwester nach der anderen unter die Haube kommt.
Aber je näher die Einschläge kommen, umso mehr bäumt Lale sich auf und heckt einen Fluchtplan aus.

Der „Mustang“ ging zwar bei der diesjährigen Oscarverleihung ins Rennen um den Preis als bester fremdsprachiger Beitrag, hat aber in letzter Minute wohl leider ein bißchen geschwächelt.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten schon die fünf jungen türkischen Darstellerinnen jeweils einen Oscar verdient.
Ihrer natürlichen Spielfreude ist es größtenteils zu verdanken, daß man trotz dieses traurigen Themas mit einem deutlich mehr lachenden als weinendem Auge das Kino verläßt.
Viel gewonnen wäre auf jeden Fall, wenn sich die Hoffnung der Regisseurin erfüllt, mit ihren tollen Mädchen die eine oder andere Tür zu öffnen, nicht nur in der Türkei, und ein Mitgefühl für die Mädchen zu schaffen!

1 Kommentar zu „Mustang“

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