Eine Schere zur Hand nehmen und sich sein persönliches Programm für das
66. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 2023
vom 08. bis 15. Oktober einfach zurechtschneiden?
So könnte das diesjährige Motiv des DOK auf dem Festivalplakat gedeutet werden, vor dem wir beide, Mieke, meine wunderbare Begleiterin während der Festivaltage, und ich mit unseren Badges für ein Foto posieren.
Auf rotem Grund prangt eine riesige Schere mit orangefarbenen Griffen und blitzenden, zum Drauflosschneiden geöffneten Klingen! Und was für ein schöner Zufall, die Farbtöne auf dem Plakat und der meines Pullis harmonieren perfekt, habe ich mir sagen lassen.
Mieke und ich hatten also zur Schere gegriffen und uns von 225 Filmen aus rund 60 Ländern unser persönliches Programm herausgeschnitten.
Aber bevor es heißt „Film ab!“ möchte ich mich herzlich beim DOK für die bereits fünfte Einladung zum Festival und der unter anderem damit verbundenen Presseakkreditierung für mich und meine Begleitung bedanken!
Tiefe Töne von Tuben, kurz und etwas abgehackt, seien zu hören bei
„The Tuba Thieves“ von Alison O’Daniel USA 2023,
dachte ich irrtümlicherweise. Das kommt davon, wenn man sich vorher nicht informiert. Ansonsten hätte ich erfahren, daß dies keine Geschichte über verschwundene und wieder auftauchende Instrumente ist, sondern der Titel der Filmemacherin lediglich als Aufhänger für ihren Dokumentarfilm zu dem Thema Hören und Nicht-Hören diente. So stellte sich im Film also die Frage, was macht das Fehlen eines Klanges mit der Wahrnehmung von Musik? Und wie nehmen gehörlose Menschen Töne, Musik und Geräusche eigentlich wahr? Eine Frage, die mich brennend interessiert!
Alison O’Daniel ist hörend und erzählt aus der Perspektive von Nichthörenden, die natürlich ganz oft zu Wort kommen. Es wurde fast ausschließlich in Gebärdensprache kommuniziert, die übersetzt und für das sehende Publikum als Untertitel auf der Leinwand eingeblendet war. Zu lesen war dort auch die Beschreibung der Töne, Musik und der Geräusche, also die sogenannten erweiterten Untertitel für Menschen mit Hörbeeinträchtigung. Ich wiederum hätte eine Audiodeskription gebraucht, um neben der Bildbeschreibung auch diese Untertitel akustisch wahrnehmen zu können. So versank ich etwas verloren in meinem Kinosessel. Aber ganz zum Schluß meinte ich dann doch noch, ein ganz kurzes „Tröt“ einer Tuba gehört zu haben. Mieke neben mir war begeistert in die akustische Welt mit den vielen beeindruckenden Bildern eingetaucht!
Die Tubadiebe waren beim diesjährigen Festival einer von 18 Filmen mit eingeblendeten erweiterten Untertiteln, das sind mehr geworden! Und wie jedes Jahr wurden ausgewählte Filmgespräche in deutsche Gebärdensprache übersetzt.
Warum tauchen eigentlich immer wieder Überschriften auf mit dem Tenor: „Betroffenen eine Stimme geben“?
„Betroffene haben alle eine Stimme, Menschen mit Gewalterfahrungen haben Stimmen, bloß werden sie nicht gehört!“, ein Zitat von Detlef Zander und er weiß, wovon er spricht.
Seit den 50er Jahren bis weit über das Jahr 2000 hinaus wurden hunderte Kinder und Jugendliche in den Kinderheimen der evangelischen Brüdergemeinde in der kleinen Gemeinde Korntal in der Nähe von Stuttgart mißbraucht. Zwangsarbeit, körperliche Züchtigung und sexualisierte Gewalt waren an der Tagesordnung.
Detlef Zander als Betroffener machte im Jahr 2014 die Verbrechen erstmals öffentlich und engagiert sich seitdem mit anderen Opfern für die Aufarbeitung der Taten.
Knapp zehn Jahre später läßt die Drehbuchautorin und Regisseurin Julia Charakter in
ihrem Dokumentarfilm vor allem
„Die Kinder aus Korntal“
zu Wort kommen, die immer noch um Aufklärung und Wiedergutmachung kämpfen. Die Stimmen und die ergreifend schmerzhaften Beiträge einiger Frauen und Männer haben sich fest in mein Gedächtnis eingebrannt. Für ihren Film wider das Vergessen wurden Julia Charakter und ihr Team mit dem Förderpreis der DEFA-Stiftung ausgezeichnet!
Bei Johnny liegt die Sache anders. Ihm wird eine Stimme gegeben, weil er keine hat!
In dem animierten Dokumentarfilm
„Johnny & Me“
gibt die Regisseurin Katrin Rothe ihrer Protagonistin Stefanie eine Schere zur Hand.
Ruckzuck ist die Miniaturausgabe von John Heartfield aus einem Bogen Pappe ausgeschnitten, spricht und los geht die Zeitreise durch sein bewegtes Leben!
Der im Jahr 1891 als Helmut Herzfeld in Berlin-Schmargendorf geborene Maler und Grafiker starb 1968 in Ost-Berlin. John Heartfield gilt als Erfinder der politischen Fotomontage und geriet als überzeugter Kommunist während und nach den beiden Weltkriegen immer wieder zwischen die Fronten. Es gibt also viel zu erzählen und mir gefiel die Idee dieser mal ganz anderen Zeitreise mit Stefanie und Johnny sehr!
Diese beiden unbedingt empfehlenswerten Filme hatte Mieke ausgesucht. Mir wären sie ansonsten entgangen, und zwar aus folgendem Grund:
Mein Fokus liegt auf den mit Audiodeskription (AD) bei der Greta App bereitgestellten Filmen, allerdings waren diese beiden nicht darunter. Vor allem bei Johnny wäre eine Filmbeschreibung sehr hilfreich gewesen. Die MAZ war schon in Arbeit, aber nicht rechtzeitig fertig.
Und ganz allgemein nachgefragt, wie zugänglich und barrierefrei war das DOK 2023?
Im Sinne des diesjährigen Motivs geantwortet, das Festival schnitt hervorragend ab!
Hier ein Zitat von der Website: „Unser Ziel ist, daß Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gemeinsam Filme schauen und diskutieren können. Deshalb arbeiten wir daran, daß alle Personen möglichst barrierefrei Zugang zum Festival haben.“
Erstmals gab es Beschreibungen von vielen Fotos und Filmstills auf der Website, toll! Informiert wurde auch über Aufzüge, Rampen, Rollstuhlplätze, Behindertentoiletten usw. zu allen Kinos und Spielstätten. Neu war auch das Angebot eines Begleitdienstes mit der Diakonie Leipzig. Blinde, Sehbeeinträchtigte und Festivalbesucher im Rollstuhl konnten sich von zu Hause oder einer Haltestelle aus zum gewünschten Kino begleiten lassen.
Meine nächste Haltestelle und zugleich Endstation in diesem Beitrag heißt:
Das Filmangebot mit Audiodeskription bei der Greta App, sechs Lang- und drei Kurzfilme!
Zum zweiten Mal stellte Paula Schumann, das Budget fest im Blick, ein möglichst umfangreiches und abwechslungsreiches Programm für das blinde und hörbeeinträchtigte Publikum zusammen und stimmte sich dabei mit ihren Kolleginnen und Kollegen der Programmabteilung ab. Zu ihren Aufgaben gehört auch, dafür zu sorgen, daß die Audiodeskriptionen rechtzeitig zum Festival erstellt und bei der Greta App verfügbar sind. Als Mitglied des Hörfilm e.V., der Vereinigung deutschsprachiger Filmbeschreiberinnen und Filmbeschreiber, weiß Paula genau, worauf sie dabei zu achten hat. Das macht sich bei der Qualität der Hörfilmfassungen enorm bemerkbar. Und diese schnitten auch dieses Jahr bis auf einen kleinen Ausrutscher sehr sehr gut ab!
Und hier meine Filmauswahl:
Beim Animationsfilm sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt und drei ganz zauberhafte Beispiele dafür sind:
„Sultana‘s Dream“
ist zugleich der Titel eines Buches, welches die Spanierin Inés bei einer ihrer Reisen durch Indien entdeckt und das sie in seinen Bann zieht. Wir begleiten sie während ihrer Suche nach dem dort beschriebenen Ladyland und tauchen mit ihr immer tiefer in die Fantasiewelt ein, dem utopischen Land der Frauen.
„Such Miracles Do Happen“
Für das Wunder, wie eine religiöse Statue lebendig wird, sich mit einem Mädchen ohne Knochen vereint, und mit anderen Figuren, die von ihren Altären herabgestiegen sind, das Dorf verläßt, gab es die goldene Taube „Bester internationaler kurzer Animationsfilm“!
„It’s Just a Whole“
Zunächst ist es ein kleiner Leberfleck, den die Ärztin bei ihrer akribischen Untersuchung auf Mayas Oberschenkel entdeckt. Dann sitzt ein kleiner dunkler Punkt auf dem Apfel, in den Maya gerade beißen will. Auf der anderen Seite sind es dann zwei Punkte wie Augen, aus denen Tränen rinnen. In ihrem Traum ist der Fleck so groß wie sie selbst und die beiden liegen nebeneinander entspannt auf einer Wiese. Schließlich tritt der Fleck als Priester auf und hat sogar eine Stimme bekommen, unglaublich und mehr verrate ich nicht!
Die Vermittlung des jeweils speziellen visuellen Stils und der vielen fantastischen Bilder in den oft kurzen dialogfreien Stellen ist die große Herausforderung beim Animationsfilm, die in allen drei Filmen mit Bravour gelungen ist!
Bei den Dokumentarfilmen war mein klarer Favorit
„Kumva – Was aus der Stille kommt“!
„Kumva“ heißt „lauschen“ und das taten alle im vollbesetzten Kinosaal mucksmäuschenstill. Wir lauschten den Müttern, die ihren jetzt 30-jährigen Töchtern und Söhnen von ihren grauenvollen Erlebnissen während des Völkermords an den Tutsi in Ruanda im Jahr 1994 erzählen. Erinnerungen haben die damals zwei- oder dreijährigen Kinder an diese schreckliche Zeit des Genozid nicht und erst jetzt finden die Mütter die Kraft, darüber zu sprechen. Und dabei lassen sie sich Zeit. Die Audiodeskription hält sich zumeist sensibel im Hintergrund, trotzdem bekam ich sehr anschaulich einen Eindruck vom Land und den Menschen vermittelt. Sehr gut gelungen fand ich das deutsche Voice Over der vielen Menschen, die in Sarah Mallégols Film in ihrer Landessprache zu Wort kommen.
„Mit 84 ist noch lang noch nicht Schluß“, ist das Lebensmotto von
„Vika!“
Sie ist quirlig, tanzt und performt in den abgefahrensten Outfits und legt als DJ in den angesagtesten Clubs in Warschau auf. Das Filmbeschreiber-Team bleibt Vika bei den noch so verrückten Choreographien dicht auf den Fersen, trifft dann aber auch in den nachdenklichen Momenten die passenden Worte zur Beschreibung ihrer Gefühlslage, wenn sie alleine nur mit ihrer Katze in der Wohnung sitzt, um den verstorbenen Mann trauert und über das etwas verkorkste Verhältnis zu ihren Söhnen sinniert.
Vor allem junge Menschen finden heute in der Lausitz zu ihren sorbischen Wurzeln zurück, wie zum Beispiel Anna in
„Bei uns heißt sie Hanka“!
Mir war es manchmal ein bißchen zuviel Tradition, Trachten und Religion. Aber der behutsame Umgang mit der Natur hat mich sehr beeindruckt. Geschwächelt hat allerdings die Audiodeskription. Mit der Stimme der Sprecherin, eher nicht professionell, konnte ich mich nicht anfreunden. Neben der AD sprach sie auch alle vom Sorbischen ins Deutsche übersetzten Untertitel. Das hatte manchmal etwas von einem Selbstgespräch. Bei „Kumva“ und „Vika“ wurden für das Voice Over zusätzlich mindestens eine weibliche und eine männliche Stimme eingesetzt, das ist für einen schönen Hörgenuß unverzichtbar! Gestolpert bin ich auch über Formulierungen wie „Nacht“, „üppiges Grün“, einfach so dahingesagt. Und was sind eigentlich saure Kartoffeln und woran erkennt man diese, wenn sie in einer Schüssel serviert werden?
Die meisten beim DOK gezeigten Filme sind erst kurz vor Festivalbeginn fertiggestellt und werden größtenteils ohne barrierefreie Fassung angeliefert. Zwei Ausnahmen waren „Bei uns heißt sie Hanka“ und „The Gate“, den habe ich verpaßt. Die mitgelieferten Audiodeskriptionen wurden bei der Greta App bereitgestellt, aus Kostengründen eine sehr sinnvolle Entscheidung!
Für die anderen sieben Filme hatte das DOK die Erstellung der Hörfilmfassung eigens für das Festival beauftragt. Schon deshalb und aus vielen weiteren Gründen können sich andere Festivals beim DOK eine riesige Scheibe abschneiden!
Ich freue mich schon auf das nächste Mal in Leipzig und bin schon sehr auf das Motiv des DOK 2024 gespannt!
Hallo, schöner Beitrag.