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Gesehen gehört

Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika

Kannst Du Dir vorstellen, hier zu leben? Das fragten sich der Schauspieler und Entertainer Joachim Fuchsberger und seine Frau Gundula immer wieder bei ihren zahlreichen Reisen rund um den Erdball. In Australien bzw. Tasmanien waren sie sich schließlich einig. Seit dem Jahr 1983 hatten die Fuchsbergers neben München einen zweiten Wohnsitz in Hubart, der Hauptstadt Tasmaniens. Im selben Jahr wurde in Salzburg auf dem Kapuzinerberg eine Büste von Stefan Zweig aufgestellt. Genau dort wollte der am 28. November 1881 in Wien geborene Schriftsteller leben. Der Doktor der Philosophie Stefan Zweig pflegte einen großbürgerlichen Lebensstil. Schon vor den zwanziger Jahren unternahm er Reisen nach Indien, Amerika und 1928 in die Sowjetunion. Nie hatte er jedoch Ambitionen, irgendwo anders als in seiner Heimat Österreich zu leben. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges kaufte er das baufällige Paschinger Schlössl am Kapuzinerberg, das er ab 1920 mit seiner Ehefrau Friderike und deren beiden Töchtern bewohnte. Schon sehr früh nahm der jüdische Schriftsteller, Humanist und Pazifist die nationalsozialistische Bedrohung ernst. Sie befand sich quasi in Sichtweite seines Hauses, auf dem Obersalzberg, Hitlers Domizil. Als er dann auch noch denunziert wurde und eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen mußte, nahmen im Februar 1934 seine Salzburger Jahre ein jähes Ende. Zwei Tage nach diesem Vorfall machte er sich allein auf den Weg nach London. Er sollte seine Heimat, den Kapuzinerberg in Salzburg, nicht mehr wiedersehen. „Vor der Morgenröte“ des 23. Februar 1942 nahm sich der 60-jährige im Exil in Petropolis bei Rio de Janeiro das Leben. Die Regisseurin Maria Schrader läßt den österreichischen Schauspieler Josef Hader als Stefan Zweig an der dramatischen Entwicklung zunächst in dessen Heimat und später in ganz Europa vom sicheren Amerika aus verzweifeln. Daß er dabei so überzeugt, liegt an Haders Schauspielkunst. Mit wem er an welchen Orten unter welchen Umständen in Amerika zusammentrifft, stammt aus den feinfühlig und geschickt geführten Federn der Drehbuchautoren Maria Schrader und Jan Schomburg. Und wie das fern der Heimat nun einmal so ist, man spricht kaum deutsch! Das war für die rundum gelungene Arbeit der Hörfilmbeschreiber eine zusätzliche und große Herausforderung. Mit insgesamt zehn Sprechern und Sprecherinnen wurden ähnlich wie beim Synchrondolmetschen die vielen englischen, französischen, spanischen und portugiesischen Dialoge übersetzt, ohne die Originalstimmen dabei zu übertönen. Müßte ich mich für eine zweite Heimat entscheiden, wäre das Frankreich, wo ich mich auch gerade aufhalte. Aber nach einer Weile würde ich die deutsche Sprache, in der ich mich zu Hause fühle, doch sehr vermissen. Das wird Stefan Zweig im Exil nicht anders gegangen sein. Anläßlich des Schriftstellerkongresses in Südamerika im September 1936 gedenken die dort in Sicherheit gelangten Autoren ihrer zurückgebliebenen Kollegen. Es wird sehr heftig und kontrovers über die Formulierung einer gemeinsamen politischen Verurteilung Deutschlands diskutiert. Zweig fühlt sich als Außenseiter und seine Verzweiflung wird dort zum ersten Mal deutlich sichtbar. Alle Namen auf der Liste der im Jahr 1935 verbotenen Autoren, deren Bücher den Flammen zum Opfer gefallen waren, werden verlesen. Hoffentlich wiederholt sich solch ein frevelhaftes Spektakel in der Geschichte nie wieder. Die in den digitalen Medien üblichen Shitstorms finde ich schon schlimm genug. Etwas irritiert an Stefan Zweigs Biographie hat mich, daß er 1934 ohne seine Familie nach London floh. Während seines Aufenthaltes in England begann er ein Verhältnis mit seiner Sekretärin Lotte, die er 1939 heiratete. Seiner geschiedenen Frau gelang 1941 gerade noch rechtzeitig und unter großen Strapazen mit ihren Töchtern die Flucht nach New York, wo sich die geschiedenen Eheleute auch noch einmal trafen. Von den Filmfrauen hat mich seine erste, gespielt von Barbara Sukowa, sehr viel mehr überzeugt. Das ist jetzt sehr gewagt, aber vielleicht hätte sie Zweigs Suizid verhindern können? In dem auf Deutsch verfaßten Abschiedsbrief schrieb Zweig unter anderem, daß ihn die Zerstörung seiner „geistigen Heimat Europa“ entwurzelt hätte. Er hielt es nicht einmal bis zur Morgenröte des 23. Februar aus, geschweige denn, daß er bis zum Ende des Krieges im Exil hätte ausharren können. Seine Frau Lotte ist ihm in den Tod gefolgt. Der Berliner Schriftsteller und Journalist jüdischer Herkunft Ernst Feder (Matthias Brandt) traf im Sommer 1941 mit seiner Frau in Petropolis ein. Er verbrachte viel Zeit mit Zweig, z.B. beim Schachspiel, und sah ihn als Letzter lebend. Erst 1957 ging Feder zurück in seine Heimatstadt, wo er 1964 verstarb. Die Entscheidung der Fuchsbergers, sich in Tasmanien niederzulassen, war eine Luxusentscheidung. Aber auch sie kehrten nach einigen Monaten immer wieder in ihre Heimat nach München zurück.

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Auf einem Brett liegen in einer Reihe fünf kleine Gebäcke, in Berlin Pfannkuchen, außerhalb Berlins Berliner genannt. Alle tragen Perücken und haben Gesichter aus aufgeklebten Augen und roten Mündern. Die vier äußeren tragen auch Ohrstecker, die Mundwinkel zeigen nach oben. Der Berliner in der Mitte ist etwas zerdrückt mit langem strähnigem Haar, die Mundwinkel zeigen nach unten. Dahinter ein zerknülltes Blatt Papier mit dem Wort Mängelexemplar. Ein schwarzer Pfeil zeigt auf den Berliner in der Mitte.

Mängelexemplar

Das Buch ist ein kostbares Kulturgut und hat irgendwie auch eine Seele! Es möchte, genauso wie alle Dinge und Lebewesen, daß mit ihm respektvoll, sorgfältig und fachgerecht umgegangen wird. Leider ist es aber auch vor Schicksalsschlägen nicht gefeit. Fehler, die beim Drucken oder Binden auftreten, degradieren das Buch zum Defektexemplar. Die nächste Gefahr lauert beim Transport und der Lagerung. Zieht es sich dabei gut sichtbare und nicht zu korrigierende Beschädigungen zu, wird es als Mängelexemplar abgestempelt und unterliegt nicht mehr der Buchpreisbindung. Mit einer gewollt verknittert aussehenden Titelseite veröffentlichte die Autorin Sarah Kuttner aus Berlin 2009 ihren Roman „Mängelexemplar“. Ob sich der Buchdeckel auch so anfühlt, wie er aussieht, kann ich mangels eines Exemplars nicht beurteilen. Ganz genau wissen wird das die Berliner Regisseurin und Drehbuchautorin Laura Lackmann. Beim Lesen des Bestsellers hatte sie sofort einen Film vor Augen und im Jahr 2014 nahm ihr Kopfkino bei den Dreharbeiten Gestalt an. Wer das Mängelexemplar, die 27-jährige Berlinerin Karo, verkörpern sollte, kam ihr jedoch nicht sofort in den Sinn. Die Wahl fiel beim Casting dann recht schnell auf die gebürtige Berliner Schauspielerin Claudia Eisinger. Wie gut diese an sich und ganz besonders am gigantischen Lehrstoff eines Jurastudiums verzweifeln kann, bewies sie bereits als Studentin Katharina in „Wir sind die Neuen“. Im krassen Gegensatz zu dem verknitterten Buchdeckel kann man bei Karos äußerer Erscheinung absolut nichts Mängelexemplarisches feststellen. Dennoch wird die sehr attraktive junge Frau von ihrer Chefin kurz und schmerzlos wie ein ramponiertes Buch ausgemustert. Sie sei viel zu unbeherrscht und emotional. Und so, wie sich Karo dann in einem Baumarkt aufführt, ihren Freund überfordert und ihre beste Freundin Anna vor den Kopf stößt, scheint da was dran zu sein. Die Einzige, die ihr gar nichts übel nimmt, und zu der sie sich jederzeit Trost suchend flüchten kann, ist ihre Oma Bille. Den Part der Oma übernimmt Barbara Schöne aus Berlin mit ihrer wundervoll warmherzigen und tiefen Stimme. Und dann ist da noch Laura Tonke, natürlich auch aus Berlin. Hier steckt sie nicht als Hedi Schneider in einem Fahrstuhl fest, sondern heißt Anna, besitzt eine Kneipe in Kreuzberg und ist eigentlich Karos beste Freundin. Wenn sich fünf Frauen als geballte Berlinerinnen-Kompetenz daran machen, eine mal tragische, meist aber komische Berliner Geschichte auf die Leinwand zu bringen, kann ja eigentlich nüscht mehr schiefjehn und das isses auch nicht! Dazu maßgeblich beigetragen haben aber auch zwei Wahlberlinerinnen. Zum einen versucht Katja Riemann als Karos Mutter – und eigentlich selbst ein Mängelexemplar – mehr schlecht als recht, ihrer Tochter aus einer tiefen psychischen Krise herauszuhelfen. Professioneller geht es da schon in der Praxis von Maren Kroymann als Psychotherapeutin Annette zu. Mit stoischer Ruhe und minimalistischen Gesten läßt sie Karo ihr Leben Seite für Seite wie in einem Buch Revue passieren und daraus erzählen. Darin kommen natürlich auch Männer vor, Christoph Letkowski als Karos Freund, Detlev Buck ist ihr Vater und Maximilian Meyer-Bretschneider mal Kumpel und mal mehr. Das männliche Geschlecht kommt zwar nicht allzu oft zu Wort, ist aber dennoch unverzichtbar, wie im Leben eben. Unverzichtbar für den vollen Filmgenuß ist wie immer eine Audiodeskription. Die gibt es auch und ich bekam sie über die App Greta im Kino auf die Ohren. Dieser frauendominante Film schreit geradezu nach einer Sprecherin für die Hörfilmbeschreibung und das war auch der Fall. Was ich von der angenehm ruhigen und unaufgeregten Stimme zu hören bekam, war mir sehr vertraut, weil ich bei der Erstellung der Audiodeskription redaktionell mitwirken konnte. Genau gesagt, las mir der Autor den Text seines Manuskriptes zwischen die Dialoge. Wenn mir etwas unklar war, haben wir gemeinsam nach einer neuen Formulierung gesucht. Die Regisseurin mußte sich einiges einfallen lassen, um Karos diffuse Gedanken und Gemütsschwankungen, wie sie im Buch beschrieben sind, in Bild und Ton darzustellen. Das ist ihr auf beeindruckende Weise geglückt, auch mit Unterstützung durch die jeweils genau passende Filmmusik. Die vielen Bilder mußten dann für die Audiodeskription wieder in Worte gefaßt und in die kurzen Dialogpausen platziert werden. Und ganz subjektiv gesprochen, ich finde, das haben vor allem der Autor, ein Urberliner, und ein bißchen auch ich, jahrzehntelange Wahlberlinerin, ganz gut hinbekommen. Mein Honorar für diese Tätigkeit kommt übrigens zu 100 % der Kinoblindgänger gemeinnützige GmbH zugute!

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Auf einer Sandfläche steht ein brauner Holzstuhl. Rückenlehne und Sitzfläche sind mit Stoff bespannt, der in Rosatönen gemustert ist. Der Stuhl ist zerbrochen, die Beine nach außen geknickt, die Sitzfläche liegt mit einer Seite im Sand. Zu beiden Seiten des Stuhles stehen und liegen Wasserflaschen am Boden.

Ein Hologramm für den König…

…und für Arne Elsholtz! Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Aber wenn Sie mal schauen wollen, Sie sehen ja selbst! Das betrifft aber nicht den Kinobesucher, ganz im Gegenteil. Nur der vom Jetlag geplagte Amerikaner Alan Clay steht in der saudi-arabischen Wüste und staunt. Von dem, was er hoffte, dort vorzufinden, ist weit und breit nichts zu sehen und diese Erkenntnis erwischt ihn trotz glühender Hitze eiskalt. Nach einer knapp zweistündigen Autofahrt von der Stadt Djidda über eine menschenleere Wüstenstraße taucht plötzlich wie aus dem Nichts ein Straßenschild auf mit der verheißungsvollen Aufschrift: „King’s Metropolis of Economy and Trade“ Alans Fahrer Yousef lenkt nun seinen schicken Wagen auf die Zufahrtsstraße zu dem Firmengelände, auf der ein gelangweilter Kontrollposten sitzt und sich die Füße in einem Planschbecken kühlt. Nachdem dieser die beiden durchgewunken hat, setzen sie ihre Fahrt durch das Nichts fort. Der einzige Unterschied ist, daß jetzt der Sand von der Straße gefegt wird. Endlich taucht ein gewaltiger runder futuristischer Gebäudekomplex am Meer auf und einige Meter entfernt ein großes schwarzes Zelt. In diesem notdürftig eingerichteten Brutkasten ohne Klimaanlage, Telefon- und Internetverbindung ist zu Clays Entsetzen sein Team untergebracht. Schlechter könnten die Voraussetzungen nicht sein, dem saudischen König persönlich eine US-amerikanische Zukunftstechnologie, ein holographisches Telefonkonferenzsystem, zu präsentieren und zu verkaufen. Als er wütend hinüber in das futuristische Gebäude marschiert, um sich über diese Mißstände zu beschweren, hat er Mühe, überhaupt jemanden anzutreffen. Und der König hat sich auch seit mindestens 18 Monaten nicht mehr blicken lassen. Diese Kulisse am Roten Meer, die Alans Hoffnungen auf einen für ihn überlebenswichtigen erfolgreichen Geschäftsabschluß sehr dämpft, ist nicht frei erfunden, sondern Realität in der Region zwischen den heiligen Städten Mekka und Medina. Dort legte der saudische König Abdullah ibn Abd al-Aziz im Dezember 2005 den Grundstein für das gigantische Projekt „King Abdullah Economic City“, kurz KAEC genannt. Knapp zwei Autostunden entfernt von der wichtigsten saudi-arabischen Hafenstadt Djidda sollte in wenigen Jahren für 22 Milliarden Euro eine Mega-Stadt, eine strahlende Wirtschaftsmetropole nach dem Vorbild Dubais, mit über 2 Millionen Bewohnern aus dem Boden gestampft werden. Realisiert wurden in den darauffolgenden acht Jahren allerdings nur einige verwaiste Bürogebäude und riesige leerstehende Apartmentkomplexe. Der Rest des ehrgeizigen Projektes ist noch auf dem Reißbrett. Vielleicht aus diesem Grund wurde der Drehbuchautor und Regisseur Tom Tykwer jedenfalls für die Dreharbeiten der Spielfilmszenen von den Saudis aus ihrer Wüste verjagt. Eine geeignete Ersatzwüste fand er dafür in Marokko. Erlaubt wurden ihm aber die Aufnahmen vom architektonisch hochinteressanten Stadtbild Djiddas. Die Bilder aus Mekka stammen von muslimischen Kameraleuten, weil Nichtmuslimen das Betreten der heiligen Stadt verboten ist. Kein Ersatz, sondern Wunschkandidat für die Rolle des Alan Clay, des 54-jährigen Geschäftsmannes und Pechvogels aus Boston, ist Tom Hanks. Der Schauspieler schätzt sich, wie er in einem Interview sagte, glücklich, nur im Film jemanden zu verkörpern, dem in jeder Hinsicht der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Aber auch der Neustart in Saudi-Arabien steht unter keinem guten Stern. Sogar diverse Sitzgelegenheiten haben sich gegen ihn verschworen und brechen bei den unpassendsten Gelegenheiten unter ihm zusammen. Und täglich grüßt nicht das Murmeltier, sondern neben einem zerbrochenen Stuhl sein Fahrer Yousef, weil Alan wieder einmal verkatert den Zubringerservice vom Hotel in den Brutkasten verschlafen hat. In dem Land der allgegenwärtigen Wasserflaschen gelingt es ihm doch immer wieder, an alkoholische Getränke zu kommen. Ähnlich wie Bill Murray kämpft auch Tom Hanks mit dem Phänomen einer Art Zeitschleife, nur mit viel mehr Tempo. Wie auf einem Laufband in einem Fitnessstudio hetzt er immer wieder durch den Tag, ohne seinem Ziel auch nur einen Schritt näher zu kommen. Welches war das noch gleich? Aber zu Alans Glück ist die saudi-arabische Ärztin Zahra kein Hologramm, also keine technisch hochkompliziert erstellte photographische Aufnahme, die ein echtes dreidimensionales Abbild des Ursprungsgegenstandes wiedergibt. Sie ist aus Fleisch und Blut und dazu auch noch wunderschön. Auch der Fahrer Yousef (Alexander Black) ist mit Haut und Haar und für den gestreßten Amerikaner ein Glücksfall. Von dem witzigen, charmanten und oft sprunghaften und widersprüchlichen jungen Mann lernt Alan viel über Land und Leute. Für die Beschreibung der Bilderflut lassen die Filmfiguren, besonders der mitteilungsbedürftige Yousef, nicht viel Zeit. Aber die Zeit, die blieb, wurde optimal genutzt und ich hätte keine der Informationen missen mögen. Nur als Alan und die Schöne vor den indiskreten Blicken der Nachbarn im wahrsten Sinne des Wortes einmal abtauchen und für eine gefühlte Ewigkeit die Luft anhalten müssen, konnten sich die Hörfilmbeschreiber einmal richtig austoben. Tom Hanks darf sich damit rühmen, daß ihm gleich zwei der besten deutschen Synchronsprecher und beide aus Berlin ihre Stimme leihen bzw. liehen. Arne Elsholtz, der unter anderem auch Bill Murray synchronisierte, ist leider vor zwei Wochen gestorben. Jetzt wird Joachim Tennstedt, der im Film „Ein Hologramm für den König“ zu hören ist, den Job wohl alleine übernehmen.

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Ein Mann namens Ove

Klappt’s mit dem oder noch besser mit allen Nachbarn, dann ist das schon die halbe Miete. Harmonische und gut funktionierende Mietergemeinschaften sind keine Seltenheit. Man sitzt in einem Boot, und das nicht nur bei Wasserschäden. Der gemeinsame Gegner ist entweder der Vermieter oder die von ihm beauftragte Hausverwaltung. Beide lassen gefühlt keine Gelegenheit ungenutzt, den Mietern das Leben schwer zu machen. Bei Eigentümergemeinschaften tilgt der einzelne Wohnungs- oder Hauseigentümer seinen Kredit bei einer Bank. Das Wohngeld zur Begleichung der laufenden Kosten überweist er an die von der Gemeinschaft ausgewählte und einstimmig oder per Mehrheitsbeschluß bestellte Verwaltung. Es fehlt also das gemeinsame Feindbild. Ich wage zu behaupten, daß es in jeder Eigentümergemeinschaft mindestens einen Stinkstiefel gibt, der den Miteigentümern und der Verwaltung mit den absurdesten Ideen auf die Nerven geht. Vorausgesetzt, man muß in solch einer Gemeinschaft nicht wohnen oder diese verwalten, kann man darüber nur verwundert den Kopf schütteln oder einfach darüber lachen. Als ob nicht jede Minute Streit verschenkte Lebenszeit wäre und gerade Nachbarn sich helfen und zusammenhalten sollten! Zu dieser Einsicht kommt „Ein Mann namens Ove“ zwar spät, aber nicht zu spät. In die deutschen Kinos kam er für die Kinoblindgänger gGmbH aber leider zu früh! Ove aus Schweden hat mich sehr begeistert. Zu gern und bestimmt auch zu Maries großer Freude hätte ich ihn mit einer Hörfilmbeschreibung und Untertiteln ausgestattet und über die Apps Greta und Starks im Kinosaal ins Ohr bzw. vors Auge gebracht (Wer ist Marie? www.kinoblindgaenger.com) Die erste Spende (250,00 Euro) ist übrigens schon eingegangen! Über die Dialogpausen hat mich mein freundlicher Nachbar mit diskretem Zugeflüster vom Kinosessel nebenan so gut es ging hinweggerettet. Ove stützt meine oben aufgestellte These mit dem Stinkstiefel allerdings nur in abgeschwächter Form. Er wohnt in einem hübschen Holzhäuschen in einer sehr gepflegten Einfamilienhaus-Siedlung irgendwo in Schweden. Jeden Morgen dreht er seine Runde, um zu kontrollieren, ob die Siedlungsbewohner die überall angebrachten kleinen gelben Verbotsschilder auch respektieren. Das tun sie natürlich nicht und es scheint ihm großes Vergnügen zu bereiten, seine Nachbarn ruppig und mürrisch zurechtzuweisen. Das klingt eigentlich nicht unbedingt nach einem Sympathieträger, aber trotzdem mochte ich Ove von Anfang an. Er ist gradlinig, konsequent und hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ausgestattet mit einem gesunden Menschenverstand und einer Portion Witz und Wortwitz läßt er sich auch nicht von seinen Vorgesetzten oder staatlichen Autoritäten auf der Nase herumtanzen. In Schweden scheint es üblich zu sein, daß sich Hauseigentümer wie hier in der Siedlung in einem Verein zusammentun, um ein gesittetes Miteinander auf den gemeinsam benutzten Straßen und Flächen zu organisieren und diese auch zu pflegen. Ove stand dem Nachbarschaftsverein solange als Präsident vor, bis er von seinem besten Freund Rune – wie er meint – „weggeputscht“ wurde. Aber auch schon vor diesem Drama standen sich die Freunde als Kontrahenten gegenüber und veranstalteten in ihren Garagen ein Wettrüsten. Saab oder Volvo, das muß wohl eine hochideologische Grundfrage gewesen sein. Ob man bei 59 Lebensjahren von einem jüngeren oder älteren Menschen spricht, hängt auch maßgeblich vom Alter des Betrachters ab. Von einem „alten Schweden“ möchte ich bei Ove daher nicht sprechen, er ist allenfalls ein bißchen lebensmüde. Im wahrsten Sinne des Wortes steinalt ist ein Findling, der vor 17 Jahren bei Baggerarbeiten in der Elbe entdeckt und auf den Namen „Alter Schwede“ getauft wurde. Der 217 t schwere Koloss hat einen Umfang von fast 20 m und wanderte während der „Elster-Eiszeit“ vor 320.000 bis 400.000 Jahren mit einem Gletscher Richtung Hamburg. Ein bißchen kann man Ove, wunderbar gespielt von Rolf Lassgård, dem Ur-Wallander, sogar mit dem Findling vergleichen. An seiner rauhen, etwas grauen Schale scheint alles abzuprallen. Sein Kern ist allerdings wachsweich. Er kann seine fünf Selbstmordversuche nur deshalb nicht erfolgreich beenden, weil er sie vorher abbricht, um jemandem zu helfen oder jemanden zu retten. Er ist eben ein Macher und kann einfach nicht anders. Nur ein Versuch scheitert ausschließlich an Materialermüdung. Er gab Sonja, der viel zu früh verstorbenen großen Liebe seines Lebens, das Versprechen, ihr so bald wie möglich zu folgen. Daß er dieses Versprechen nicht wie geplant einhalten kann und sogar wieder Freude am Leben gewinnt, verdankt er seinen neuen Nachbarn. Anfangs ist er entsetzt, daß sich ausgerechnet direkt neben ihm ein Ehepaar mit zwei Kindern einnistet. Seine neue Nachbarin Parvaneh (Bahar Pars) ist zu allem Überfluß nicht einmal Schwedin und auch noch schwanger. Aber gegen ihr herzhaftes Lachen ist auch ein Mann namens Ove nicht gewappnet. Zum Glück hatte und habe ich immer tolle Nachbarn, man hilft sich, hat Spaß miteinander, ohne sich zu eng auf die Pelle zu rücken. Wenn es bei mir nur mit auf Hochglanz polierten Gläsern beim Nachbarn klappen würde, hätte ich ganz schön trübe Aussichten!

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Eddie the Eagle – Alles ist möglich

Milch verleiht dem Konsumenten zweifellos genauso wenig Flügel wie der allseits bekannte klebrig-süße Drink aus der schmalen blausilbernen Büchse. Das Einzige, was der Hersteller dieses Produktes seit 1987 mit solch einer Behauptung beflügelt, sind wohl seine weltweiten Umsätze. Der britische Ausnahme-Skispringer „Eddie the Eagle“ bevorzugte für seine körperliche Fitness das laktose- und kalziumhaltige Naturprodukt, mit dem er sich in jeder freien Minute stärkte. Milch statt Dope, oder ausschließlich Dopen mit Milch, das wäre doch einmal eine sympathische Devise für alle künftigen nationalen wie internationalen sportlichen Wettkämpfe! Ob der wirkliche Eddie the Eagle, mit bürgerlichem Namen Michael Edwards, dessen Biographie dem Film zugrundeliegt, genauso oft wie seine Filmfigur zum Milchglas griff, wissen wir nicht. Jedenfalls stahl er als erster britischer Skispringer bei den Olympischen Winterspielen von 1988 im kanadischen Calgary den Medaillengewinnern beim Skispringen mit seinem spektakulären Sprung die Show. Er belegte zwar mit gerade 71 Metern Sprungweite den letzten Platz, wurde aber vom Publikum für seinen Mut gefeiert. Wegen seines recht unorthodoxen Stiles, in dem er sich mit den Armen rudernd um Stabilität im Flug bemühte, kürte man ihn zu „Eddie the Eagle“. Diese Sensation muß damals an mir vorbeigeflogen sein. Aber dank des Filmes konnte ich diese Wissenslücke nun schließen und hatte meinen Spaß dabei. Über den olympischen Gedanken „Dabei sein ist alles“ hinaus war ich im Kino nicht nur einfach so dabei. Mit der Hörfilmbeschreibung, die Eddie bei seinen 13 Sprüngen mit und ohne Bruchlandung begleitete, konnte ich jede kritische wie unkritische Phase genau verfolgen. Das gilt auch für seine Sorgenfalten, wenn er unschlüssig auf dem Startbalken sitzt und mit Unbehagen in den Abgrund schaut. Genauso wird beschrieben, wie er nach einem geglückten Sprung über das ganze Gesicht strahlt. Seine letzte Amtshandlung, bevor er sich von dem Balken abstößt, ist jedes Mal das Zurechtrücken der Skibrille mit dem Zeigefinger. Die Musik kündigt an, wenn er sich schließlich in die Tiefe stürzt und unüberhörbar heben beide, Eddie und die Filmmusik, gleichzeitig vom Schanzentisch ab. What goes up must come down! Und genauso bekommen Musik und Eddie wie gewollt gleichzeitig wieder festen Boden unter die Füße, bei den ersten Versuchen recht unsanft und schmerzhaft, später auch elegant gleitend. Erfunden und in die Welt getragen haben diese nicht ganz ungefährliche Variante des Skifahrens die Norweger. Die älteste bildliche Darstellung, daß und wie sie das tun, ist auf den 16. Februar 1862 datiert. Knapp 30 Jahre später sprang man im steirischen Mürzzuschlag beim ersten europaweiten Wettbewerb im Skispringen über einen verschneiten Misthaufen. Geruchsneutral wird es dagegen 1924 bei den olympischen Winterspielen zugegangen sein. In diesem Jahr durften zum ersten Mal auch die Wintersportler inklusive der Skispringer im Wettkampf um olympische Medaillen gegeneinander antreten. Die Skispringerdamen sind allerdings erst seit zwei Jahren dabei. Wiedererfunden und mit Leben erfüllt wurde die olympische Idee der Antike nach einer über zwei Jahrtausende langen Pause maßgeblich von dem französischen Baron Pierre de Coubertin. Er gründete 1894 das Internationale Olympische Komitee und zwei Jahre später fanden unter Ausschluß des weiblichen Geschlechts die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen statt. Frauen wollte der Erfinder und Herr der fünf Ringe nicht dabei haben, wurde aber im Jahr 1914 überstimmt. Neuerfunden hat die Olympischen Spiele der Neurologe und Neurochirurg Ludwig Guttmann. In Oberschlesien geboren und 1938 nach England emigriert, ist er der Begründer der Paralympischen Spiele, die ihre Premiere 1960 in Rom feierten. Seit 1992 finden die Paralympics am selben Ort wie die Olympischen Spiele statt, jeweils drei Wochen später. Ohne Guttmanns großartige Verdienste auch nur ansatzweise schmälern zu wollen, fände ich es schöner, wenn behinderte wie nichtbehinderte Sportler vor demselben Publikum antreten könnten. Blinde Skispringer konnte ich übrigens nicht ausfindig machen. Manchmal ist es von Vorteil, der Gefahr nicht ins Auge schauen zu können, und ich bin bestimmt nicht ängstlich. Aber niemals würde ich in einer Schußfahrt diese langen steilen Hänge hinunter rasen und abheben, um vielleicht irgendwo und irgendwie wieder herunterkommen. Genauso ging es dem Darsteller des Eddie. Taron Egerton machte sich zwar mit der Hockposition während der Abfahrt, der Absprungbewegung am Schanzentisch und der Technik der Telemark-Landung vertraut. Für die Ausführung der kritischen Phasen dazwischen ließ er sich doubeln. Sein kettenrauchender Trainer Bronson Peary (Hugh Jackman), immer mit einem Flachmann in der Tasche, kam dafür ohne Double aus. Beide Eddies faßten erst mit Anfang 20 den Entschluß, mit dem Skispringen zu beginnen und nach einer Trainingszeit von nicht einmal zwei Jahren an den Olympischen Spielen in Calgary teilzunehmen. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit! Das olympische Motto „citius, altius, fortius“, streng übersetzt „schneller, höher, stärker“, aber im deutschen Sprachgebrauch als „schneller, höher, weiter“ eingeführt, war für beide nicht von Belang. Sie hielten sich an den anderen ebenfalls von Coubertin erwähnten Grundgedanken: „Wichtig ist nicht, bei den Olympischen Spielen zu gewinnen, wichtig ist es, teilzunehmen. Im (Sportler-)Leben geht es nicht darum, den Gegner zu besiegen, vielmehr darum, sich wacker zu schlagen.“ Dies ist den Eddies, beflügelt von ihren Träumen und mit eisernem Willen und Durchhaltevermögen mehr als gelungen!

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Raum

Die Ebstorfer Weltkarte gilt als die größte und umfangreichste Weltkarte des Mittelalters. Sie ist rund, weil die Erde bekanntlich eine Scheibe war, und hat einen Durchmesser von etwa 3,6 m. Die ganze Welt auf einer Fläche von gut 10 m²! Noch weniger Platz steht Joy und ihrem Sohn Jack in ihrer ganzen Welt, dem „Raum“, zur Verfügung. Die vier fensterlosen Wände des Raumes bilden ein 9 m² großes Rechteck und die einzige natürliche Lichtquelle ist eine in die Decke eingelassene Glasscheibe. Die Tür zum Raum fiel vor sieben Jahren hinter der damals 17-jährigen Joy ins Schloß. Nach zwei Jahren Einzelhaft der jungen Frau erblickt dort ihr Sohn Jack nicht das Licht der Welt, sondern nur das spärliche Tageslicht im Raum, jedenfalls für seine ersten fünf Lebensjahre. Kurz vor seinem fünften Geburtstag beginnt die Filmgeschichte und zumindest für den Zuschauer öffnet sich die Tür schon einmal einen Spalt breit. Ebenfalls durch diesen Spalt spähen die Hörfilmautoren und lassen Jack und Joy bis zum Schluß nicht mehr aus den Augen. Ohne die beiden beim Schlafen, Waschen und Essen zu stören, wird informativ, aber knapp beschrieben, wie sie sich in ihrem kleinen Lebensraum eingerichtet haben. Der Einzige, der von den beiden Gefangenen weiß und die Tür jederzeit mit einem Zahlencode ganz öffnen kann, ist Old Nick. Seitdem er Joy vor sieben Jahren in einen Hinterhalt lockte, um sie einzusperren, macht er von dieser Möglichkeit auch jede Nacht Gebrauch. Sprachlich hat der Raum seine Wurzeln im althochdeutschen „rumi“, was soviel wie „weit und geräumig“ heißt. Von geräumig kann man bei diesem 9 m² kleinen Gefängnis wohl kaum sprechen. Die Ausstattung und Größe des Raumes unterscheidet sich nur unerheblich von der einer Zelle im deutschen Strafvollzug. Weil dazu auch eine Toilette gehört, kam im Gefängnisjargon die Wortschöpfung des „Wohnklos“ auf. Gefangene haben allerdings den großen Vorteil, durch ein wenn auch vergittertes Fenster nach draußen schauen zu können und ihr Wohnklo gelegentlich verlassen zu dürfen, um an der frischen Luft einmal tief durchzuatmen. Aber für Jacks Welt ist im Multifunktionsraum dank seiner jungen Mutter ausreichend Platz. Mit ihrer grenzenlosen Liebe und Geduld versucht sie mit wenigen bescheidenen Mitteln, aber umso mehr Fantasie, Jacks Welt in dem trostlosen Karton so bunt und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Als Ersatz für ein Haustier bastelt sie eine Eierschlange, die aus auf einer Schnur aufgefädelten Eierschalenhälften besteht. Diese Kreativkreatur wohnt unter dem Bett und wird wie alle Gegenstände im Raum von Jack jeden Tag mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ begrüßt. Das Gefühl von Beklemmung, das sich immer stärker in mir breit machte, konnte ich leider nicht mit dem Gedanken bekämpfen, daß ja alles nur im Film geschieht. Das Drehbuch für den Film schrieb Emma Donoghue nach der Vorlage ihres Romans „Raum“ aus dem Jahr 2010, bei dem sie sich an den grauenvollen österreichischen Kriminalfall Josef Fritzl anlehnte. Allerdings läßt sie es ihren Figuren nicht ganz so schrecklich wie in der Realität ergehen. Vor allem die Art und Weise, wie der kleine Jack fröhlich und unbekümmert die Filmgeschichte aus seiner Sicht erzählt, läßt den traurigen Hintergrund manchmal vergessen. Bei seiner Mutter Joy merkt man dagegen deutlich, wieviel es ihr abverlangt, dem Jungen das Leben in der Enge erträglich zu machen. Es fällt ihr immer schwerer, auf Jacks Fragen plausible Antworten zu finden. Auch die Bilder von der Welt draußen, die der Fernseher als einziger Luxusgegenstand in den Raum bringt, kann sie ihm kaum noch als Fantasiewelt verkaufen. Menschlich wie schauspielerisch sind die beiden ein sympathisches, unschlagbares und perfekt eingespieltes Team. Deshalb können sie auch den Teufel überlisten und fliehen. Old Nick, wie die beiden ihren Peiniger nennen, ist nicht dessen Name, sondern eine englische Bezeichnung für den Teufel. Obwohl ich bereits vor dem Kinobesuch von der geglückten Flucht wußte, pochte mein Herz vor Aufregung bis zum Hals. Nach der anfänglich übergroßen Freude und Erleichterung wird sehr schnell deutlich, wie schwierig und lang der Prozeß für die beiden sein wird, sich in den vielen Räumen und Freiräumen, die ihnen jetzt offenstehen, zurecht zu finden. Auch die ausschließliche Zweierbeziehung zwischen Mutter und Sohn gibt es von einem auf den anderen Tag so nicht mehr. Während Jack allmählich besonders die schönen Seiten der unverschlossenen Welt entdeckt und zu schätzen lernt, fällt Joy zunächst in ein tiefes Loch. Sie hat zwar ihr Leben zurückbekommen, aber die letzten sieben Jahre sind unwiederbringlich verloren. Aber sie hat Jack und mit seiner Hilfe schöpft sie wieder ein bißchen Lebensmut. Weil der Drehbuchautorin beide Lebensphasen ihrer Filmfiguren gleich wichtig sind, platziert sie die Flucht exakt in die Mitte des Filmes. Genau diese gleiche Gewichtung ist nur eine der großen Stärken des „Raums“, auch wenn ich mich in meinen Artikel nicht daran gehalten habe. Wäre der Hörfilmbeschreibung kein Platz auf der Liste der App Greta eingeräumt worden, hätte ich mich nicht auf den „Raum“ eingelassen. Es gab so viele wortlose, aber umso gestenreichere Szenen mit ausdrucksstarker Mimik, deren Beschreibung mir dank Greta nicht vorenthalten wurde.

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In einem Garten stehen sich zwei Frauen gegenüber, bei beiden handelt es sich um die Blindgängerin. Die linke hat das Haar mit einem Holzstäbchen hochgesteckt und trägt einen roten Kimono mit goldenen Stickereien und schwarzen Borten. Die rechte hat das schulterlange Haar offen und trägt über einer weißen Rüschenbluse ein blauweißkariertes Dirndl mit rosa Schürze. Beide neigen leicht die Köpfe und halten zur Begrüßung die Hände zusammengelegt vor die Brust.

Grüße aus Fukushima

Dirndl trifft auf Kimono! Die deutsch-japanischen Beziehungen sind traditionell freundschaftlich und reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Ein Beleg dafür ist der im Januar 1861 zwischen Preußen und Japan geschlossene Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag. Zwei Jahre vor dem 150-jährigen Jubiläum der erstmals offiziell manifestierten Freundschaft vereinbarten beide Staaten, dieses im Jahr 2011 feierlich zu begehen. Allerdings wurde der Freude am Feiern am 11. März ein jähes Ende gesetzt. An diesem Tag waren aller schlechten Dinge drei: Ein Seebeben, ein Tsunami und die Kernschmelze in drei der sechs Reaktorblöcke des Kernkraftwerkes Fukushima! Auch fünf Jahre nach dem Super-GAU leben vor allem ältere Menschen in der Präfektur Fukushima immer noch in Notunterkünften. Sie sind Flüchtlinge in ihrer Heimat und eine Rückkehr in ihre zerstörten und radioaktiv verseuchten Dörfer und Häuser scheint eher unwahrscheinlich. Ähnlich wie alte Bäume möchten Menschen ab einem gewissen Alter nicht mehr so gerne entwurzelt und umgesiedelt werden. So harren die Senioren notgedrungen in den eigentlich nur provisorisch errichteten Containerdörfern aus und leben mehr oder weniger freudlos in den Tag hinein. Das ist die traurige Realität im Jahr 2016 und die schwarzweiße Filmkulisse von „Grüße aus Fukushima“. Dorthin macht sich Marie, Ende zwanzig, von Deutschland aus auf den Weg. Sie hat sich der Organisation Clowns4Help angeschlossen und möchte mit ihrem Clownskostüm im Gepäck den Containerbewohnern ein Lächeln in die Gesichter zaubern. Aber während die Alten ihrem Clownskollegen Moshe, wunderbar gespielt von dem echten Clown Moshe Cohen, fasziniert folgen und begeistert applaudieren, erntet Marie nur verständnislose Blicke. Auch ihr Versuch, die Senioren zum Schwingen der Hüften mit Hula-Hoop-Reifen zu animieren, scheitert kläglich. Wütend, vor allem über sich selbst, ist Marie drauf und dran, ihre Mission abzubrechen, die da lautet: Ich will anderen Menschen helfen, denen es im Vergleich zu mir wirklich schlecht geht, um mein eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aber sie bleibt, legt ihr zwanghaftes und nicht ganz uneigennütziges Helfersyndrom ab und rettet schließlich doch ein Leben und eine Seele. Radioaktivität kann man nicht fühlen, riechen, sehen oder hören, sondern nur messen. Bei ihrer Ankunft läßt das bedrohliche Rattern des Geigerzählers leichte Panik bei Marie aufsteigen. Man versucht, sie damit zu beruhigen, daß die Sperrzone mittlerweile freigegeben sei, also keine Gefahr mehr für Leib und Leben bestünde. Radioaktivität hin oder her, die alte Dame Satomi möchte um jeden Preis der Tristesse des Containerdorfes entfliehen und zurück zu ihren Wurzeln, dem zerstörtem Haus in der Sperrzone. Vielmehr als die Strahlenbelastung fürchtet sie die Erinnerungen an die Bilder der Katastrophe, die sie immer wieder heimsuchen. Besonders nachts quälen Satomi Schuldgefühle, weil sie auf Kosten des Lebens eines geliebten Menschen den Tsunami überlebte. Für solche Fälle hält die japanische Mythologie die viele Jahrhunderte alte Tradition der Yurei bereit. Diese den europäischen Gespenstern ähnlichen Totengeister sind die in der Welt der Lebenden gefangenen Seelen der Toten. Marie besiegt ihre Ängste vor der Radioaktivität und quartiert sich in Satomis Haus ein, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Jetzt läßt die Regisseurin Doris Dörrie den Frauen viel Zeit, sich kennen zu lernen und voneinander zu lernen. Das geschieht, abgesehen von einigen wenigen Gefühlsausbrüchen, ohne große Worte und mit vielen Gesten, sehr sensibel und glaubhaft gespielt von Rosalie Thomass und der japanischen Schauspielerin Kaori Momoi. Die vielen Dialogpausen wurden für eine Bildbeschreibung mit viel Liebe zum Detail genutzt. So kam auch ich einmal in den Genuß, den üblicherweise wortlosen Vorführungen der Tricks eines Clowns genauestens folgen zu können. Aber auch die Beschreibung der immer wieder eingeblendeten Bilder von dem Tsunami und den verheerenden Zerstörungen blieben mir nicht erspart. Immer noch erinnere ich mich gerne an die warme und ruhige Stimme der Sprecherin, ähnlich der von Senta Berger, über die App Greta in meinem Ohr. Allmählich findet Satomi, die letzte Geisha von Fukushima, wieder ins Leben zurück und schlüpft aus ihrer Jogginghose in ihren Kimono. „Kiru“ heißt anziehen, „mono“ das Ding und fertig ist das japanische Kleidungsstück Kimono, das einem Kaftan ähnelt. Zusammengehalten wird das Ganze mit einem Gürtel, dem Obi. Satomi versucht nun, der etwas ungelenken und für die japanischen Möbel zu großen Marie die Kultur des Teetrinkens im Fersensitz nahezubringen. Marie entledigt sich ihrer Jeans und streift sich ihr Dirndl über. In den oberdeutschen Dialekten bedeutet Dirndl junges Mädchen, was aber nicht bedeutet, daß in dem typisch bayerischen engtaillierten Trachtenkleid mit Schürze nur junge Mädchen stecken. Was der jungen Frau in ihrem Clownskostüm mißlang, glückt ihr in ihrem Dirndl. Als sie beschwingt von Sake zur Musik von Velvet Underground aus dem Autoradio so eine Art Schuhplattler hinlegt, schüttet sich Satomi aus vor Lachen. Die elegante Geisha Satomi lacht oder schimpft immer mit ihrer knarzenden Originalstimme mal auf japanisch und meistens auf englisch. Die Devise „Man spricht deutsch“ ist die Ausnahme in dem Film. Nur wenn es Marie allzu bunt wird, greift sie auf ihre Muttersprache zurück. Neben der Hauptsprecherin lasen deshalb zusätzlich fünf oder sechs weitere Personen die deutschen Untertitel der jeweiligen Filmfiguren mit viel Emotion in ihren Stimmen vor, ähnlich wie Synchronsprecher. Das war mir zeitweise fast schon ein bißchen zu viel, hat aber einen Grund. Bei der Aufbereitung der Hörfilmfassung für DVD und Fernsehen wird die Lautstärke der Originalstimmen stark heruntergeregelt, es sind dann, anders als im Kinosaal, die Stimmen der deutschen Sprecher im Vordergrund. Warum das so ist, habe ich vergessen zu fragen. Mich hat es jedenfalls sehr gefreut, im Kino die Originalstimmen von Marie, Satomi, dem alten Mönch und all den anderen, meist von japanischen Laiendarstellern gespielten Figuren, hören zu dürfen. Durch sie schickt uns Doris Dörrie auf ihre ganz persönliche Art Grüße aus Fukushima!

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Mustang

Es ist wieder einmal soweit und das Schuljahr geht mit dem lang herbeigesehnten letzten Tag vor den Sommerferien zu Ende. Entsprechend hoch ist der Geräuschpegel auf dem Gelände einer Schule im ländlichen Norden der Türkei, wo sich die Schüler und Lehrer ausgelassen und mit viel Gelächter für die nächsten Wochen voneinander verabschieden. Als der Rocksänger Vincent Damon Furnier im Jahr 1972 in die Welt schrie „School’s out for summer”, war die Schulzeit für ihn schon seit einigen Jahren Geschichte. Aber wir Schüler von damals hatten nun für diesen Tag eine Rockhymne und der amerikanischen Band Alice Cooper gelang damit der internationale Durchbruch. Schon kurze Zeit später löste sich die Band auf und Furnier begann offiziell unter dem Namen Alice Cooper seine Solokarriere. Auch wenn ich an meine Schulzeit nicht besonders wehmütig zurückdenke, freue ich mich wahrscheinlich gerade deshalb immer wieder, diese Hymne im Radio zu hören. Ohne Hymne, aber umso fröhlicher machen sich die fünf Schwestern Lale, Nur, Ece, Selma und Sonay gemeinsam mit einigen Jungs und Mädels von der Schule auf den Heimweg. Sie haben das Glück, bereits dort zu sein, wo sich die meisten ihrer Altersgenossen für die Sommerferien erst noch hinstauen müssen, bei glühender Hitze auf den Rückbänken der elterlichen Fahrzeuge. Das abgelegene Dorf im Norden der Türkei, in dem sie seit dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren bei der Großmutter leben, liegt nur einen Katzensprung entfernt von einem wunderschönen Sandstrand an der Schwarzmeerküste. Züchtig, ohne sich zuvor der Schuluniformen zu entledigen, stürzen sich die jungen Leute in die Fluten und veranstalten eine Wasserschlacht. Auf den Schultern der Jungs sitzend, versuchen die Mädchen unter großem Gejubel, sich gegenseitig ins Wasser zu schubsen. Nicht Big Brother, sondern viel schlimmer, eine Dorfbewohnerin beobachtet den harmlosen und unbekümmerten Badespaß, der in ihren Augen ein obszönes und höchst verwerfliches Verhalten darstellt. Als die Mädchen gut gelaunt in das Haus ihrer Großmutter stürmen, hat die Spionin dort bereits ganze Arbeit geleistet. Ab sofort heißt es nicht nur „School’s out for summer“ sondern, genau wie weiter im Songtext von Alice Cooper, auch „School’s out forever“! Füllfederhalter, Schulhefte und Bücher, coole Klamotten, Handys und Computer, einfach alles, was man als moderner Teenager so braucht, ist schlagartig tabu. Stattdessen wird die hohe Kunst des Füllens von Weinblättern, Paprikaschoten und Bettdecken gelehrt. Das Haus der Großmutter verwandelt sich hauptsächlich auf Betreiben ihres Sohnes, also des Onkels der Mädchen, so nach und nach zu einem Hochsicherheitstrakt. Das Schlimmste ist jedoch, daß geheiratet werden soll, was man den Mädels vor die Nase setzt. Aber der böse Onkel und die im Grunde ihres Herzens eigentlich gutmütige Großmutter haben die Rechnung ohne die Fünferbande gemacht. Wie eine Herde freiheitsliebender Mustangs versuchen sie, die Zügel abzustreifen und den gegenständlichen wie seelischen Mauern mit viel Fantasie und noch viel mehr Witz zu entfliehen. Dabei haben sie genauso wie der Zuschauer viel Spaß und eine erstaunlich gute Erfolgsquote. Die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven erzählt in ihrem überwiegend fiktiven Film sehr berührend von den Schicksalen ihrer fünf Filmmädchen. Sie gewährt einen Einblick in die immer noch männerdominierte Gesellschaft, vor allem in den ländlichen Gebieten der Türkei, wo Weiblichkeit sehr oft auf Sexualität reduziert wird. Sie weiß, wovon sie spricht. Als Tochter eines türkischen Diplomaten wurde sie in Ankara geboren und wuchs abwechselnd in der Türkei, den Vereinigten Staaten und Paris auf. Für mich und natürlich alle Kinoblindgänger wurde dank der Audiodeskription und mit der App Greta die Jalousie hochgezogen und so hatte auch ich freie Sicht durch das Fenster in diese andere Welt. Der Sprecher hat zwischen dem Geplapper und Gelächter der Mädchen gerade noch ausreichend Zeit zu erzählen, wer wo was gerade wie tut, oder einfach nur die wunderschöne Landschaft zu beschreiben. Außerdem ist da noch Lale, die 12-jährige und damit jüngste der Schwestern, die als Erzählerin durch die Geschichte führt. Hilflos muß sie mit ansehen, wie eine Schwester nach der anderen unter die Haube kommt. Aber je näher die Einschläge kommen, umso mehr bäumt Lale sich auf und heckt einen Fluchtplan aus. Der „Mustang“ ging zwar bei der diesjährigen Oscarverleihung ins Rennen um den Preis als bester fremdsprachiger Beitrag, hat aber in letzter Minute wohl leider ein bißchen geschwächelt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten schon die fünf jungen türkischen Darstellerinnen jeweils einen Oscar verdient. Ihrer natürlichen Spielfreude ist es größtenteils zu verdanken, daß man trotz dieses traurigen Themas mit einem deutlich mehr lachenden als weinendem Auge das Kino verläßt. Viel gewonnen wäre auf jeden Fall, wenn sich die Hoffnung der Regisseurin erfüllt, mit ihren tollen Mädchen die eine oder andere Tür zu öffnen, nicht nur in der Türkei, und ein Mitgefühl für die Mädchen zu schaffen!

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Hail, Caesar!

Der Papa wird’s schon richten, der Papa macht’s schon gut, der Papa, der macht alles, was sonst keiner gerne tut. Ohne diesen Richtepapa wäre die Familie, über die Peter Alexander fröhlich in seinem Schlager von 1981 trällert, ganz schön aufgeschmissen. Ähnlich erginge es im Film „Hail, Caesar!“ einem gewissen Filmstudio im goldenen Zeitalter Hollywoods Anfang der 50er Jahre, wenn nicht Eddie Mannix alles richten würde. Gemeint ist das Studio „Capitol Pictures“, in dem gerade gleichzeitig die Dreharbeiten für einen Western, ein Matrosen-Musical, ein sogenanntes Aqua-Spektakel und ein neues elegantes Gesellschaftsdrama laufen. Aber die größte und alles andere in den Schatten stellende Produktion ist die Verfilmung des biblischen Schwert- und Sandalen-Epos „Hail, Caesar!“. Dieses Pensum zu bewältigen, scheint selbst dann fast unmöglich, wenn alles und jeder wie geschmiert funktioniert. Gleich bei seinen ersten mit ruhiger, tiefer und warmer Stimme gesprochenen Worten stellte ich mir unter Eddie einen älteren, freundlichen, gutmütigen und etwas abgespannten Herrn vor. Der Schauspieler Josh Brolin schätzt an seiner Filmfigur besonders deren väterliche Stärke, Eddie sei eine großartige Vaterfigur. Ich würde noch eine Generation zurückgehen, Eddie hatte für mich eher schon etwas Großväterliches. Das lag vielleicht an dem Synchronsprecher, dessen Stimme mich mal an Mario Adorf, mal an Willy Brandt erinnerte. Auch bei der äußeren Erscheinung des erst 48-jährigen Brolin wurde etwas nachgeholfen. Seine deutsche Stimme ist übrigens 20 Jahre älter. Auch der reale Eddie Mannix war ein Filmproduzent und Studiomanager und lebte von 1891 bis 1963. Für den Film änderten die Coen-Brüder dessen Charakter stark ab. Das kann im Umkehrschluß nur bedeuten, daß der wahre Mannix nicht unbedingt ein angenehmer Zeitgenosse war. In der öffentlichen Wahrnehmung, ganz besonders bei den Damen, ist natürlich George Clooney in der Rolle des Baird Whitlock der Superstar dieses Werkes. Eine Hauptrolle spielt er jedoch nur im FilmFilm, und zwar den Schwert- und Sandalenträger in dem biblischen Epos. Die Figur, die alles zusammenhält, ist aber ganz klar Eddie Mannix. Dabei hat der Zuschauer tausendfach seinen Spaß, Eddie wohl eher weniger. Wäre es doch blosso einfach, „bloß so“ korrekt zu betonen, wie aus einer Spaghetti ein Lasso zu knoten! Der Darsteller des Westernhelden Hobie Doyle (Alden Ehrenreich) kann seine Rolle auch im Alltag nicht ablegen. Dabei sind seine Stärken eindeutig waghalsige Stunts mit Pferden und der Umgang mit dem Lasso. Sich kultiviert auszudrücken, fällt ihm dagegen schwer, erst recht vor laufender Kamera. In einen Anzug gezwängt, scheitert er in seiner neuen Rolle in dem neuen Gesellschaftsdrama, was auch immer das sein mag, bei den Wörtchen „bloß so“ und spricht diese wie Lasso, also „blosso“ aus. Mich würde einmal interessieren, wie sich das in der englischen Originalfassung anhört. Wo er geht und steht, knotet er alles, was er in die Finger bekommt, zu einem Lasso. Nicht einmal die Spaghetti auf dem Teller sind vor seinen Fingern sicher, und das bei einem Abendessen in weiblicher Begleitung. Diese Wirrung mit der Nudel ist nur eine von unzähligen Szenen, für deren Beschreibung trotz vieler Dialoge Zeit blieb. Während sich die Hörfilmbeschreiber wegen der Bilderflut oft beinahe überschlagen mußten, konnte ich mich in meinem Kinosessel genußvoll zurücklehnen und dank der App Greta entspannt der Audiodeskription lauschen. Besonders toll beschrieben war die Choreographie der Wassernixen bei dem Aqua-Spektakel. Bei dem leicht obszönen Stepptanz der Matrosen in dem Musical kam ich doppelt auf meine Kosten. Steppen ist wie Percussion mit den Füßen und was die Mannsbilder dabei so anstellten, wurde mir genauestens zugeflüstert. Aber wenn es den Autoren auch noch so in den Fingern juckt, wenn gesprochen wird, hat die Audiodeskription eben Pause. Ganz besonders gejuckt haben muß es bei dem Gag, als ein ans Kreuz genagelter Statist während der glühenden Abschlußrede des Schwert- und Sandalenträgers gelangweilt gähnte und sich am Bein kratzte. Ihn hat es wohl auch gejuckt. Noch vieles, vieles mehr ließen sich die Coen-Brüder einfallen, um das von ihnen verehrte altehrwürdige Hollywood in all seinen Facetten noch einmal aufleben zu lassen. Für mich hat Hollywood noch eine ganz andere Bedeutung, es ist nämlich der Namensgeber für mein Lieblingsgartenmöbel. Anfang der 50er Jahre kam durch verschiedene Filme aus der Traumfabrik der Durchbruch für die Hollywoodschaukel in Europa. Sie wurde schnell zum Symbol sich modern und mondän gebender Freizeitgestaltung zur Zeit des Wirtschaftswunders. Eddie kann vor Streß nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden, sich von einer Verandaschaukel sanft hin und her wiegen zu lassen. Aber zu guter Letzt sind im Film alle Filme im Kasten und die durchgeknallte Cutterin kann Hand anlegen. Sogar für die Außenaufnahmen findet sich trotz Dauerregens eine Lösung. Alle seine Schützlinge sind zufrieden und auch der Richtegroßpapa kommt mit sich ins Reine. Das muß er auch, weil bald heißt es wieder: „Klappe, die erste! And action…!“

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Die weißen Regale eines Geschäftes sind vollgestopft mit Flaschen, Gläsern, Messern und anderem, vieles davon in den Schweizer Nationalfarben, weißes Kreuz auf rotem Grund. Vor den Regalen steht die Blindgängerin und rührt mit einem langen Holzlöffel in einem Käsefondue-Topf. Auch der Topf ist rot mit weißem Kreuz. Auf der Schulter der Blindgängerin sitzt ein Stoffmurmeltier mit rotem Hut und Mantel.

Nichts passiert

Und wer hat’s erfunden? Nur ein Schweizer, und zwar der Drehbuchautor und Regisseur Micha Lewinsky. Es passierte aus heiterem Himmel. Als er vor sechs Jahren mit dem Fahrrad durch die Straßen Berlins radelte, ereilte ihn von einem Augenblick zum anderen die Idee für die komplette Filmgeschichte. Abgesehen von einigen Notizen passierte wegen der Ereignisdichte in seinem Leben während der darauffolgenden Jahre mit dem Filmstoff jedoch erst einmal nichts. Aber jetzt endlich geht es für die dreiköpfige Familie Engel aus Deutschland bei strahlendem Sonnenschein und idealen Schneeverhältnissen zum Skiurlaub ins Prättigau in die Schweizer Alpen. So wie man den Seefahrern immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel wünscht, gibt man den Wintersportlern ein „Ski Heil“ mit auf den Weg. Schweren Herzens habe ich vor einigen Jahren meine uralten Skistiefel entsorgt. Nicht, daß ich mir das Skilaufen nicht mehr zutraue, aber die Pisten sind nicht größer, aber dafür umso voller geworden. Das Risiko, von einer sogenannten Pistensau über den Haufen gefahren zu werden, ist mir einfach zu hoch. Diesbezüglich braucht man sich bei der Hauptfigur des Films keine Sorgen zu machen. Ob nun gerade nichts oder viel passiert, zum Skilaufen kommt Thomas Engel sowieso kaum. Der Grund dafür heißt Sarah, ist 15 Jahre alt und die Tochter seines Chefs. Der Kameramann muß übrigens ein exzellenter Skiläufer sein, der beim Filmen vor den Schauspielern auf Brettern rückwärts abi fuhr. Eine erste Ahnung, daß der Urlaub unter keinem guten Stern steht, bekommt man schon während der Autofahrt auf dem Weg in das weiße Paradies. Thomas sitzt fröhlich am Steuer, in freudiger Erwartung auf schöne Tage im Schnee. Weder die ständigen Vorhaltungen seiner entnervten Frau Martina noch das Genörgel der gemeinsamen Tochter Jenny vom Rücksitz können ihm etwas anhaben. Einig sind sich Mutter und Tochter in ihrem Unmut darüber, daß Thomas sich von seinem Chef hat breitschlagen lassen, dessen Tochter in die Ferien mitzunehmen. Schon kurz nachdem Sarah in das Auto zugestiegen ist, fallen zwischen den beiden Mädels die ersten Spitzen. Auch die wohl hübschere und auf jeden Fall verwöhnte Tochter des Chefs ist nicht gerade begeistert, bei den Engels für eine Woche geparkt worden zu sein. Aber das Gezeter aller drei Damen prallt an Thomas‘ Frohsinn einfach ab. Kaum haben sich die vier in dem angemieteten Châlet eingerichtet, werden sich die Eheleute nicht einig, ob die Mädchen zu einer Feier der heimischen Jugend unten im Dorf gehen dürfen. Trotz der Einwände seiner Frau macht Thomas den Chauffeur. Im Nachhinein würde er das bestimmt kein zweites Mal tun. Was sich auf der Party genau abspielt und was Sarah auf der Rückbank des geparkten Autos widerfährt, in das sie zunächst freiwillig eingestiegen war, kommt nur sehr scheibchenweise zutage. Ganz aufgeklärt wird erst am Schluß. Fast alle europäischen Staaten außer Italien, Polen und Ungarn haben inzwischen auf Empfehlung der WHO die „Pille danach“ aus dem Katalog der rezeptpflichtigen Medikamente gestrichen. In Deutschland ist dieses Präparat erst seit März 2015 rezeptfrei und darf an Jugendliche ab 14 Jahren auch ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten abgegeben werden. Die Schweiz schaffte die Rezeptpflicht schon im Jahr 2002 ab. Allerdings müssen die Apotheker mit der mindestens 15-jährigen Betroffenen ein Aufklärungsgespräch führen, das in einem Formular festzuhalten ist. Thomas gibt dem Flehen der völlig aufgelösten Sarah nach, ihrem Vater nichts zu sagen und ihr zu der Pille danach zu verhelfen. Mit seiner Unterschrift auf dem Formular in der Dorfapotheke schafft er eine Tatsache. Jetzt gibt es für ihn kein Zurück mehr. Er tut so, als sei nichts passiert, und erwartet das auch von Sarah. Aber die seelischen Folgen lassen sich mit der Pille nicht mal eben so einfach mit herunterschlucken. Also nimmt das Drama seinen langsamen, aber gewaltigen und auch gewalttätigen Lauf. Der Darsteller des Thomas, Devid Striesow, ging in einem Interview mit seiner Filmfigur sehr hart zu Gericht. Er verurteilte scharf, wie Thomas jedes Mittel recht ist, um aus seinem anfänglichen Fehlverhalten unbeschadet herauszukommen. Jeder, der sich auf den Film einläßt, kann nun für sich entscheiden, wie er sich verhalten hätte. Das hat der Drehbuchautor gut hinbekommen. Keine Sekunde hätte ich in Thomas‘ Haut stecken mögen. Dann kriselt es auch noch in der Ehe. Um die Wogen zu glätten, schlägt er einen gemütlichen Fondue-Abend am Kamin vor. Eine Hörfilmbeschreibung gab es für den ausschließlich mit Schweizer Fördermitteln produzierten Film leider nicht. Zwar taten die Darsteller ihr Bestes, um mich darüber hinweg zu retten, und haben allein durch ihre Dialoge reichlich Bilder in meinem Kopf produziert. Viele Details werden mir aber verborgen geblieben sein. Besonders beeindruckend ist Devid Striesows Wandel von einem fröhlichen, harmlosen und übertrieben harmoniebedürftigen Familienmenschen zu jemandem, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Auch die 15 und 17 Jahre jungen Lotte Becker als Jenny und Annina Walt als Sarah haben ihre Figuren schon fast erschreckend glaubhaft gespielt. Ich werde jetzt genau das tun, was Thomas nicht vergönnt ist: Einen gemütlichen Abend am Kamin mit Original Schweizer Käsefondue verbringen! Die dazu nötigen Zutaten gibt’s im „Chuchichäschtli“. Das heißt Küchenschrank und ist ein kleines Fleckchen Schweiz mitten in Berlin-Wilmersdorf. Dort wird man allerliebst von Schwiizern beim Kauf von Schwiizer Leckerlis und diverser Küchenutensilien beraten!

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