Herbert Grönemeyer plädiert in seinem Hit „Kinder an die Macht“ dafür, den Kindern das Kommando zu übergeben, weil sie unter anderem nicht berechnen, was sie tun. Weiter im Text heißt es, daß die Kinderwelt ohne die Begriffe „gut und böse“ und „schwarz und weiß“ auskommt.
Wenn er sich da mal nicht täuscht! Ich habe zwar keine Kinder, war aber immerhin mal selbst eins.
Ganz bestimmt irrt er sich bei den beiden neun- und zehnjährigen Mädchen, die ich jetzt ins Spiel bringe. Die zwei sind sehr wohl in der Lage, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und berechnen ganz genau, was sie tun. Sie warten nicht, bis ihnen die Erwachsenen das Kommando übergeben, sondern nehmen das Zepter gleich selbst in die Hand.
Die jüngere der beiden zaubert schon seit 70 Jahren zunächst den Lesern und später auch den Kino- und Fernsehzuschauern jung wie alt ein Lachen ins Gesicht. Die sommersprossige, rotbezopfte, bärenstarke und freche Göre aus Schweden namens Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminze Efraimstochter Langstrumpf macht sich die Welt, widdewidde wie sie ihr gefällt. Pippi war mein erstes und einziges Idol!
Die zehnjährige Ea (Pili Groyne) gab ihr Debut bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes als eine der wichtigsten Mitwirkenden des „Brandneuen Testaments“. Anders als Pippi muß sie sich mit nur einem Namen, bestehend aus gerade zwei Buchstaben, begnügen und macht die Welt zwar nicht, wie sie ihr gefällt, stellt sie aber auf den Kopf und hebt sie fast aus den Angeln. Das gelingt ihr dank der Macht ihres allmächtigen Vaters. Es ist Gott persönlich, der unter den Menschen verweilt und mit seiner Familie in Brüssel wohnt.
Im ersten der zehn Gebote heißt es:
„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.“
Diesem Gebot zum Trotz blickte Gott in meiner kindlichen Fantasie mit seinem überirdisch großen wie aus einem Stein gemeißelten Gesicht streng zwischen den Wolken auf die Erde herab. Auch der Regisseur und Drehbuchautor (Jaco Van Dormael) pfeift auf das Gebot und verpaßt dem Herrn ein herrlich verloddertes Aussehen.
Der Heilige Vater schafft es nicht einmal in die berüchtigte Jogginghose. Im Bademantel mit Latschen und immer einer Bierpulle am Hals schlurft er zwischen dem Eßtisch, dem Fernseher und seiner Machtzentrale, einem hermetisch abgeschlossenen Kabuff, hin und her.
Seinem verkommenen Äußeren entspricht seine niederträchtige Gesinnung allem und jedem gegenüber. Er sitzt am Rechner, erschafft die Welt inklusive Brüssel so widdewidde wie sie ihm gefällt und traktiert zu seiner Belustigung Menschen und Tiere mit Katastrophen und unzähligen fiesen Geboten. Auch vor der Flora macht er nicht halt und dennoch macht es höllischen Spaß, ihm bei seinem Machtmißbrauch zuzuschauen.
In den Schaffenspausen demütigt er seine Gattin, Frau Gott, oder versemmelt seine Tochter.
Beide wünschen sich die Rückkehr des vor 2015 Jahren gekreuzigten Sohnes und Bruders, der die schäbige Behausung nur als Figur ziert.
Das schwedische Mädchen in seinen riesigen Schuhen und Ringelstrümpfen liebt ihren irdischen Vater abgöttisch und hätte an Eas Stelle mit ihren Wahnsinnskräften schon längst dem Spuk des überirdischen Tyranns ein Ende gemacht.
Aber auch die schwarzhaarige, kluge, irdisch aussehende Ea zieht schließlich mit Köpfchen die Reißleine. Sie setzt den Rechner und damit ihren Papa Schachmatt.
Die Flucht vor dem jetzt rasend wütigen Alten aus dem göttlichen Gefängnis gelingt ihr durch dieses große weiße Haushaltsgerät, das bevorzugt natürlich immer nur einzelne Socken frißt.
Bestimmt hat dabei auch der da oben seine Finger mit im Spiel.
Bei beiden Mädels ist das mit der Schulbildung so eine Sache. Pippi stellt das Einmaleins auf den Kopf und Ea leidet an einer starken Schreibschwäche. Deshalb verpflichtet sie den Erstbesten, der ihr nach der Flucht in Brüssel über den Weg läuft, zum Schriftführer für ihr brandneues Testament.
Brandneu bedeutet hier, daß sie die ursprünglich 12 Apostel des Neuen Testaments um sechs weitere nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Apostel und Apostelinnen aufstockt.
Den Tip, dem alten Neuen Testament auf diese Weise neues Leben einzuhauchen, bekommt sie von ihrer zeitweise wiederauferstehenden brüderlichen Jesusfigur.
Von den testamentarischen Neuzugängen ist einer verkorkster und verkrachter als der andere und jeder für sich wäre schon für eine Geschichte gut.
Die weise Ea zeigt jedem Einzelnen eine unglaubliche Möglichkeit auf, sich aus seinem Schlamassel zu befreien, und kennt dabei keine Tabus.
Zudem schenkt sie ihnen Träume, fängt ihre Tränen ein, und findet für jeden eine passende Melodie.
Besonders rührend kümmert sie sich um den sechsten Apostel, einen totkranken Jungen. Dieser wäre lieber ein Mädchen und möchte seine letzten Stunden unbedingt am Meer verbringen. Ea begleitet ihn und im Schlepptau haben sie einen Fisch, der die Melodie des Jungen, „La Mer“, blubbert.
Der kleine Apostel kennt seinen Todeszeitpunkt auf die Sekunde genau, weil Ea ihm und allen anderen Menschen vor ihrer Flucht vom väterlichen Rechner aus eine SMS mit dem jeweiligen Todesdatum geschickt hatte.
Über die Tragweite dieser Maßnahme beispielsweise für mich und die Menschheit im Allgemeinen möchte ich nicht einmal nachdenken.
Jedenfalls strömen immer mehr Menschen zu dem Strand ans Meer, wo die apokalyptische Stimmung immer wieder vom Blubbergesang des Fisches aufgeheitert wird.
Die Rettung ist der plötzliche aufkeimende Putzfimmel von Frau Gott, die nach getaner Arbeit die Welt macht, wie sie ihr gefällt. Sie beschränkt sich allerdings auf das Design. Für den göttlichen Strippenzieher a. D. haben sich die Filmemacher zu guter Letzt eine besonders witzige Quasi-Rache Gottes auf Erden ausgedacht.
Besonders beneidete ich Pippi damals um ihr Äffchen und das große weiße Pferd mit den schwarzen Tupfen.
Zur gleichen Zeit eroberten zwei Stuttgarter Schwaben, das Äffle und das Pferdle, in den Pausen zwischen den Werbespots des Süddeutschen Rundfunks die Herzen der badischen und schwäbischen Fernsehzuschauer.
Das Äffle schwäbelt beispielsweise „I glaub, mi tritt e Pfärd“, „Noi noi, des Äffle isch net dahoim“ und liest mit rollenden Augen als Nachrichtensprecher „Wetter… gibt’s heut koins“.
Koi Hörfilmbeschreibung hat’s auch beim Brandneuen Testament gäbe.
Meine Freundin Pascale hat mir, wenn sie nicht gerade in sich hineingeknickert hat, so viele Bilder wie möglich beschrieben. Davon gab es mehr als genug.
Aber ich hatte auch mit den Dialogen schon genug zu tun, dieser Film ist einer der wenigen, die ich mir unbedingt noch ein zweites Mal anschauen werde.
Vorher aber wünsche ich allerseits einen wunderschönen Ausklang des Jahres 2015, ob mit dem Neuen oder Alten Testament, oder so wie ich allenfalls mit dem Brandneuen.
Am 31.12. gibt’s dann eine kleine Silvesterüberraschung, bevor es im neuen Jahr mit alter und neuer Frische weitergeht.