Kafkas Der Bau
Franz Kafka ist ohne sein Wissen der Ziehvater des Filmes „Kafkas Der Bau“. Die Werke des 1883 in Prag geborenen deutschsprachigen Schriftstellers zählen nach einhelliger Meinung zur Weltliteratur. Die letzten zwei Jahre vor seinem frühen Tod im Jahr 1924 schrieb der schwer erkrankte Kafka an der unvollendet gebliebenen Erzählung „Der Bau“, die mit dem unvollständigen Satz endet „Aber es blieb alles unverändert, das . . .“ Der Schriftsteller Max Brod, sein langjähriger Freund und Weggefährte, strich das Wörtchen „das“ und ersetzte das Komma durch einen Punkt, bevor er das Werk 1931 veröffentlichte. Ungefähr 80 Jahre nach dem Tod des Ziehvaters beginnt der Oscarpreisträger Jochen Alexander Freydank an einem Drehbuch zu schreiben, dem er diese unvollständige Erzählung Kafkas zugrunde legt, sie in die Jetztzeit überträgt und mit dem Titel „Kafkas Der Bau“ als Regisseur erstmals verfilmt. Bis zur Fertigstellung des Filmes werden 10 Jahre vergehen. Franz Kafka läßt in „Der Bau“ ein dachsähnliches Tier als Ich-Erzähler dessen fanatischen, aber vergeblichen Kampf schildern, seinen riesigen labyrinthähnlichen Erdbau gegen Eindringlinge jeglicher Art zu sichern. Der Drehbuchautor Freydank gibt die Rolle des Ich-Erzählers in menschliche Hände und kann den Schauspieler Axel Prahl als seinen Wunschkandidaten für die Rolle des Franz gewinnen. Auch Franz plagen stets wachsende paranoiaartige Wahnvorstellungen, sich vor einem wie auch immer gearteten Feind durch eine Optimierung des Baus, seiner in den obersten Etagen eines Hochhauses gelegenen Wohnung, schützen zu müssen. „Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohl gelungen. Das Schönste an meinem Bau ist aber seine Stille. Freilich, sie ist trügerisch.“ Diese Sätze legt Franz Kafka seinem dachsähnlichen Tier in den Mund und der Regisseur läßt diese seinen Ich-Erzähler Franz als Einleitung in dessen Videokamera sprechen. Ab sofort bleibe ich bei der Filmgeschichte, bevor ich mich noch verFranze! Franz ist verheiratet, hat zwei Kinder, ein schickes Auto und eine gute Stellung in einer Versicherung oder Bank. Er bezieht mit seiner Familie eine große luxuriös ausgestattete Wohnung in einem noblen, in knallroter Farbe gestrichenen Hochhaus mit Wachpersonal, einem Hausmeister, gespielt von Josef Hader, und allgegenwärtigen Überwachungskameras. Um das Glück festzuhalten, wird kurz nach dem Einzug ein „glückliche-Familie-Foto“ geschossen, wobei dem Teddy eines der Kinder nicht zum letzten Mal besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Und von da an ging‘s bergab! Damit habe ich auf keinen Fall zu viel verraten, weil der Prozeß des Verfalls von Mensch und Gebäude gleichermaßen das Nervenaufreibende ist. Besonders der äußerliche Verfall des anfangs sehr gepflegt aussehenden Franz ist so dramatisch, daß er irgendwann sein Spiegelbild nicht erkennt und, mit einer Brechstange auf sich selbst losgehend, den mannshohen Spiegel zum Bersten bringt. Seine Angst, jederzeit attackiert zu werden, ist nicht unbegründet. Auch ich habe mich vor vielen Jahren über mein Spiegelbild geärgert, das zielstrebig auf mich zu kam und einfach nicht ausweichen wollte. Das lag allerdings weniger an einer Verwandlung meinerseits und der große Wandspiegel blieb heil. Mit dem Prozeß der fortschreitenden Verwahrlosung und seelischen Verwirrung des Franz geht der äußerliche und innerliche Verfall des einst noblen knallrot gestrichenen Hochhauses einher. Je mehr der Mieter das Haus verlassen wie Ratten das sinkende Schiff, erobern zerlumpte, zwielichtige, in Müllbergen wühlende Gestalten das Gebäude. Bei seinen flotten Schrittes absolvierten Kontrollgängen muß sich Franz an den überall in den Fluren und dem Treppenhaus Kauernden vorbeilavieren und ich habe nur darauf gewartet, daß eine der Figuren ihn an seinen Fußgelenken packt. Ich wurde nicht enttäuscht. Mir ist das zum Glück nie passiert, als ich mich vor einer Ewigkeit auf dem Weg zu meinem Studentenzimmerchen in einem alten Gemäuer mitten in der Heidelberger Altstadt regelmäßig an auf dem Boden schlafenden, schnarchenden Bündeln vorbeimogeln mußte. Dialoge sind in diesem Film eher die Ausnahme. Meistens monologisiert Franz in seine Videokamera oder führt Selbstgespräche. Der Regisseur läßt die Bilder für sich sprechen, arbeitet oft mit Rückblenden und springt zwischen den Parallelwelten des Franz hin und her. Zudem gelingt es der Filmmusik und den merkwürdigsten Geräuschen, eine bedrohliche Stimmung zu verbreiten. Zu dem außergewöhnlichen Film kam dann auch eine sehr ungewöhnliche Hörfilmbeschreibung durch Greta in mein Ohr. Ortswechsel werden einige Male mit dem Begriff „Szenenwechsel“ angekündigt. Eigentlich reicht es, wenn der neue Handlungsort einfach benannt wird. Allerdings muß hier oft ein Zeitsprung angekündigt werden oder Franz befindet sich zwar in denselben Räumlichkeiten, aber in seiner Parallelwelt. Mindestens einmal wird erwähnt, daß die Kamera einen sehr langen Flur entlang schwenkt. Man hätte auch die Bilder beschreiben können, welche die Kamera einfängt. Aber erst durch das lange Schweigen, untermalt von der düsteren Musik, kam die bestimmt gewollte Beklemmung auf, die Kameraführung gehört also zur Eigenart des Filmes. Mehrmals werden die Geräusche erklärt, bevor sie zu hören sind. Bis auf eine Ausnahme ist das berechtigt, weil im Moment des Geräusches schon wieder neue Bilder zu erklären sind. Wie ich mich bei den netten Damen an meiner Seite im Kinosaal vergewissern konnte, war es schon für sehende Zuschauer nicht ganz einfach, das Geschehen auf der Leinwand zu deuten. Umso schwerer muß es für die Hörfilmbeschreiber gewesen sein, eine verständliche, der Stimmung des Filmes gerecht werdende Bildbeschreibung zu erstellen. Eine Autorin des Teams, bei dem auch Blinde beteiligt waren, hat mir das bestätigt. Wegen der langen dialogfreien Phasen kann der Sprecher langsamer als gewohnt seine Texte platzieren, auch das ist vom Hörfilmteam gewollt, um das Tempo des Sprechers dem des Filmes anzupassen. Mir war das ein bißchen zu langsam. Aber das alles ist wie immer Geschmackssache. Das Wichtigste ist, daß in meinem Kopf Bilder entstehen, die zu den gesprochenen Worten und den Geräuschen passen, und das war immer der Fall. Besonders gelungen ist die Beschreibung der Mimik des brillierenden Axel Prahl als Franz in all seinen Lebensphasen. Ich habe mich einfach in die Abgründe des Franz mitziehen lassen, war aber sehr erleichtert, das Kino noch bei den letzten Sonnenstrahlen und Vogelgezwitscher verlassen zu können.