Licht
Was für ein Spagat par excellence, von einer Strickleiter hin zu den Tonleitern! Vor einem Jahr wollte Maria Dragus über eine aus Stricken geknüpfte Leiter in eine Galerie einbrechen. In „Tigergirl“ machte sie als Vanilla die Straßen Berlins unsicher. Ich kann mir gut vorstellen, daß sie in den wilden Kampfszenen ihr akrobatisches und tänzerisches Können auch mit dem einen oder anderen Spagat unter Beweis gestellt hat. Hier geht es allerdings um den Spagat im übertragenen Sinn! Ich hatte noch genau das „Bäm!“ im Ohr, ihren nichts Gutes verheißenden Schlachtruf. Aber sobald Maria Dragus in “Licht“ zu sprechen begann, war sie für mich nur noch die von ihr hier verkörperte 18-jährige Wiener Pianistin Maria Theresia Paradis. Die Worte kommen ihr als Resi, wie sie kurz genannt wird, eher zurückhaltend und mit einem ungemein liebenswerten dezent österreichischen Akzent über die Lippen. Davon gibt es hier die erste der vom Farbfilm Verleih zur Verfügung gestellten Kostproben. Aber Vorsicht, der Ausschnitt ist reines Ohrenkino, ohne Bild! Der Originalton des Filmes und die Sprecherin der Audiodeskription sind zu hören. Letztere bekam ich im Kinosaal per Kopfhörer über die App Greta und Starks im mein Ohr. Ich hatte von der im Jahr 1759 in Wien geborenen Pianistin, Komponistin, Sängerin und Musikpädagogin noch nie gehört. Im Wiener Musikleben dagegen war Resi Paradis sehr prominent und mit Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart bekannt. „Am Anfang war die Nacht Musik“, ein Roman von Alissa Walser über das außergewöhnliche Leben der Maria Theresia Paradis! Zu beachten ist beim Buchtitel die Trennung von „Nachtmusik“ in zwei Worte. Es ist überliefert, daß die Pianistin mit drei Jahren „über Nacht“ aus nie ganz geklärten Gründen erblindete. Sie hatte zwar das Glück, schon als junges Mädchen musikalisch gefördert zu werden, mußte aber hauptsächlich nach dem Willen ihres Vaters, eines kaiserlich-königlichen Hofbeamten, einige qualvolle wie erfolglose medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen. Als letzten Ausweg übergaben die Eltern ihre inzwischen 18-jährige Tochter in die Obhut des wegen seiner neuartigen Methoden umstrittenen Arztes Franz Anton Mesmer. Mit „Am Anfang war die Nacht Musik“ hat alles angefangen. Der historische Stoff dieses Romans mit Figuren, die es wirklich gegeben hat, inspirierte die Regisseurin Barbara Albert zu ihrem Film „Licht“, in dem sie sich auf Resis Aufenthalt in Mesmers Haus beschränkt. In ihrem Roman schreibt Alissa Walser abwechselnd aus der Perspektive des Mediziners Mesmer und der Patientin Paradis. Für Barbara Albert war die Figur der Resi die Spannendere, die sie gleich in ihr Herz schloß, und auf die sie sich deshalb in ihrem Film konzentriert. Ich tue das in meinen weiteren Ausführungen jetzt auch, obwohl das Franz Anton Mesmer (Devid Striesow) nicht ganz gerecht wird. Nach einigen Behandlungen, bei denen sich der Arzt eines magnetischen Fluidums bedient, vermag Resi zunächst wieder Licht und allmählich auch ihre Umgebung wahrzunehmen. Aber genauso schön ist es zu beobachten, wie sie – zum ersten Mal von ihren Eltern getrennt – aufblüht und Selbstvertrauen gewinnt. Auch das ist Mesmers Verdienst. Gleich in der ersten Sitzung öffnet sie sich ihm mit den beklemmenden Worten: „Wer nichts sieht, wird nicht gesehen, und wer nicht gesehen wird, wird auch nicht gehört, der lebt nicht.“ Und das bildet sie sich leider nicht nur ein. Beim Vorstellungsgespräch in Mesmers Haus ergreifen ausschließlich ihre Eltern für sie das Wort! Dazu Hörschnipsel 2: Aber am Klavier fühle sie sich wie ein General. Und das bekommt Mesmer bei dem Duett, der für mich schönsten musikalischen Einlage, auch zu spüren! Dazu der wunderschöne Hörschnipsel 3, bei dem mir die insgesamt sehr gut gemachte Audiodeskription besonders gefällt. Als ob die Sprecherin mit ihrer schönen Stimme die Musizierenden begleitet, ohne sie dabei zu stören! Ich denke, dieser Moment zählt zu Resis glücklichsten. Sie fühlt sich wohl im Hause Mesmer und die ersten zarten Erfolge der Behandlung stellen sich gerade ein. Noch wirkt sich die Verbesserung ihrer Sehkraft nicht negativ auf ihr virtuoses Klavierspiel aus. Resis Augen! Den typischen blinden Blick kann es schon alleine wegen der vielfältigen Ursachen für eine Erblindung mit den unterschiedlichsten Auswirkungen nicht geben. Resis Augen werden natürlich immer wieder beschrieben und das hört sich so an: Ihre geröteten Augen wandern ziellos umher, ohne etwas zu fixieren. Sie wirken trüb und glasig. Ihr Blick bewegt sich nicht. Ihre Augenlieder flattern. Unbeholfen folgen ihre Augäpfel ihrer Hand dicht vor ihren Augen. Das Bild ist erst verschwommen, dann wird es klar. Ihre Augen fokussieren einen Gegenstand. Unruhig rollen ihre Pupillen hin und her. Im Profil schimmert ihr Augapfel weiß. Ich habe zwar auch einem blinden Menschen noch nie direkt in die Augen geschaut, aber das klingt für mich sehr plausibel, gut gelöst und vor allem nicht übertrieben. Spannender für mich und überzeugend dargestellt fand ich, wie sie sich anfangs vorsichtig tastend bewegt und später Schrittchen für Schrittchen auch alleine ihre Umgebung erforscht. Sie erfährt, daß Dinge, die sie sieht, weiter entfernt sind, als sie vermutet, und gerät über einen Misthaufen auf einer Wiese in Entzückung! Maria Dragus ließ sich übrigens von der Fachfrau Silja Korn beraten! Zwei Seelen in meiner Brust! Wenn zugegebenermaßen auch ein bißchen neidisch, ich habe mich mit Resi über jede noch so kleine Besserung ihres wiedergewonnenen Augenlichts gefreut. Vereinzelte Äußerungen von Blinden, die keinen Wert darauf legen, sehen oder wieder sehen zu können, kann ich nicht nachvollziehen. Und auch bei Resi hörte ich einige Male Sehsüchte heraus. Das heißt natürlich nicht, daß Resi und ich mit unserem Schicksal hadern und jammern. Weil das Klavierspielen ihr Leben ist, ist Resis Verzweiflung entsprechend groß, als sie feststellt, ihre Hände beim Spielen nicht mehr wie gewohnt unter Kontrolle zu haben. Ich war hin und hergerissen, ob ich dieses Leid genauso wie ihre Freud mit ihr teilen kann oder soll. Denn dies hätte auch eine nur vorübergehende Phase der Irritierung sein können. Schließlich ist ihr musikalisches Talent nicht auf ihre Blindheit zurückzuführen. Dieses wäre nur ohne ihre Erblindung als kleines Mädchen und der damit einhergehenden frühen musikalischen Förderung nicht zu Tage getreten. Aber Resi braucht mein Mitleid überhaupt nicht! Selbstbewußt verläßt sie nach geschätzt zwei, drei Monaten Mesmers Haus und kennt jetzt