Blog Blindgaengerin

Berlinale

Anke Nicolai, die Blindgängerin und Ralf Krämer, alle in warmer Winterkleidung, vor einem Plakat mit dem Bärenlogo der Berlinale. Im Hintergrund die Fassade des Berliner Zoo-Palastes.

Mit Ralf bei der Berlinale im Zirkus

Und ich übergebe gleich das Wort an meinen geschätzten Kollegen und guten Freund, den Journalisten und Filmbeschreiber Ralf Krämer: „Ob es nun ein Geschenk zum 75. Geburtstag der Berlinale war oder nicht, in diesem Jahr gab es auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin für blinde und sehbehinderte Kinofans ein größeres Angebot als je zuvor.15 deutsch- und ein englischsprachiger Film mit deutscher Audiodeskription standen auf dem Programm. Dazu zählte auch der Dokumentarfilm „Zirkuskind“.Die ganz besondere Vorführung im großen Saal des Berliner Zoo-Palastes haben wir, die Blindgängerin und ich, besucht. Aber wie jedes Festival beginnt auch unser Bericht mit der Eröffnung.Zum ersten Mal gab es während der feierlichen Eröffnungsgala der Berlinale eine Live-Audiodeskription. Den Saal, die stets wechselnde Beleuchtung, die Outfits und die vielen eingespielten Filmausschnitte galt es zu beschreiben und die vielen Promis auf dem roten Teppich zu erwähnen. Und das bei sehr wenig Zeit zwischen den Wortbeiträgen.Die Live-AD, getextet und gesprochen von Anke Nicolai, konnte über Audioguides und Kopfhörer leider nur in der zum Kino umgebauten Uber Eats Music Hall empfangen werden. Dort waren 40 Plätze für blinde und sehbehinderte Menschen reserviert und die waren sehr begeistert.Die zeitversetzte Übertragung der von Désirée Nosbusch moderierten Gala samt der Überreichung des Ehrenbären für das Lebenswerk an Tilda Swinton im rbb oder beim ZDF/3sat war so straff gekürzt, dass nicht eine Sekunde Zeit für die AD gewesen wäre, schade!Aber der Blindgängerin wurde das Skript der Live-AD zugespielt. Hier eine Kostprobe mit der Beschreibung von Tilda Swintons wie immer hinreißenden Äußeren:„Sie ist groß, hager, hat hellblondes hochgegeltes Haar, das an den Seiten abrasiert ist, blaue Augen, hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und geschwungene rot geschminkte Lippen. An ihrem linken Ohr glänzen zwei silberne Ringe. Swinton trägt den bodenlangen dunklen Mantel mit kleinem Stehkragen, Kunstpelzbesatz an Kragen und vorderem Saum sowie glänzenden Knöpfen.“ Sowohl im großen Berlinale Palast mit seinen 1631 Sitzplätzen als auch in der Music Hall konnte man dann mit der Greta-App der Audiodeskription des Eröffnungsfilms, Tom Tykwers „Das Licht“ lauschen.Gleiches gilt auch für den Berlinale-Trailer mit seiner rotierenden Kugel aus lauter goldenen Bären, die schließlich explodiert und sich in einen Funkenregen auflöst.Den Link zum Trailer mit der von Ulrike Hübschmann gesprochenen AD gibt es ganz unten. Der wahrlich zauberhafte Berlinale-Trailer passte dann auch perfekt zum Start der Vorführung von „Zirkuskind“, am frühen Montagmorgen im Zoo-Palast.Der Film von Julia Lemke und Anna Koch, der als erster Dokumentarfilm von der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ gefördert wurde, feierte seine Weltpremiere im Berlinale Programm Generation Kplus. Bei „Zirkuskind“, empfohlen ab sieben, wurde die Audiodeskription live von Anke Nicolai eingesprochen und wie bei der Eröffnung über Audioguides und Kopfhörer zugänglich gemacht. Diese technische Lösung war im Vorfeld mit einer eingeladenen Grundschulklasse der Berliner Johann-August-Zeune-Schule für Blinde abgesprochen.Damit wurde sichergestellt, dass das noch nicht so im Umgang mit Smartphones geübte junge blinde Publikum gleich von Anfang an dem Film und der Bildbeschreibung folgen konnte. Und so tauchten alle (und wir), die in den großen Saal hereinspaziert waren, in den Alltag des Zirkus Arena ein. Im Mittelpunkt stehen dabei der etwa 12jährige Santino und sein jüngerer Bruder Gitano. Sie helfen ihrem Vater, ihren Großvätern und Tanten beim Auf- und Abbau der Zelte, beim Verkauf flackernd bunter Plastikspielzeuge und üben erste artistische Nummern ein. Als wiederkehrendes Motiv stellt sich Santino mehrfach vor einer neuen Schulklasse vor, von der er weiß, dass er sie und seine neugewonnenen Freunde schon nach wenigen Wochen wieder wird verlassen müssen. Immer wieder streiten sich Santino und Gitano darum, wer denn nun mit dem schweren Hammer die massiven Heringe des Zirkuszeltes in den Boden schlagen darf. Das erzählt nachvollziehbar auch von der gewissen Monotonie des unsteten Lebens eines Wanderzirkusunternehmens. Irgendwann schien uns das aber eher redundant. Wir hätten uns stattdessen mehr Details aus dem Leben mit den Zirkustieren gewünscht, statt noch einmal mitzuerleben, dass am Ende der Vater der Brüder doch den Großteil der schweren Hammerarbeit erledigen muss. Pferde, Kamele, Hunde und Rinder mit imposanten Hörnern begleiten den Zirkus auf seinem Weg. Wohl wissend, dass Tierdressuren mittlerweile eher kritisch gesehen werden, schafft es zumindest die Frage einer Mitschülerin von Santino in den Film, ob im Zirkus „Tiere gequält würden“. Der Junge antwortet mit einem entschiedenen „Nein!“ Kein Betrieb, der mit Tieren arbeitet, würde so streng kontrolliert wie der Zirkus, heißt es einmal noch. Viel mehr erfährt man über die Haltung, Ausbildung und die Auftritte der Tiere leider nicht.Trotzdem ist „Zirkuskind“ durchaus gelungen. Die Familienmitglieder scheinen die Kameras während der langen Dreharbeiten gar nicht wahrzunehmen. Das führt zu vielen spannenden und auch immer wieder berührenden Einblicken in die Geschichte der traditionsreichen Zirkusfamilie. Für letztere ist Uropa Ehe zuständig, der mit seinen über 80 Jahren zu den „letzten großen Zirkusdirektoren Deutschlands“ zählt. Wenn er zum Beispiel von seinem einstigen Star, dem Elefantenbullen Sahib erzählt, übernehmen fantasievoll von Magda Krebs und Lea Majeran animierte Szenen die Bebilderung. In der Audiodeskription wurde dies so angekündigt: „Ein gezeichneter Trickfilm“.Dass bei dem abschließenden Publikumsgespräch ein Kind mit Sehbehinderung erstmal fragte, was eigentlich ein Trickfilm sei, machte deutlich: Bei der Erstellung von ADs für Kinder- und Jugendfilme sollte unbedingt auch das junge blinde Zielpublikum mit einbezogen werden. Auf großes Interesse stieß die abschließende Ankündigung, dass die jungen „Zirkuskinder“ im Kino-Foyer noch Autogramme geben würden. So bekamen zumindest die eifrigsten Autogrammjäger wohl nicht mehr mit, wie die Moderatorin gewissermaßen als Zugabe noch einmal dazu aufrief, sich für die Kinder-Jury der Berlinale zu bewerben. Diese Einladung gelte ganz besonders auch „allen Marginalisierten, egal ob Ihr schwarz oder trans seid oder eine Behinderung habt.“ Da fragten wir uns schon, ob man hier ernsthaft der Meinung war, gerade Kinder auf diese Weise angemessen anzusprechen. Der Veranstaltung, in der eigentlich ganz selbstverständlich Inklusion praktiziert wurde, erwies dieses unbeabsichtigt exkludierende Finale dann doch eher einen, nun ja, Bärendienst. Froh stimmte uns hingegen, dass wir mit Anke Nicolai noch ein Foto in der kalten Winterluft machen konnten und uns über das austauschten, was die Berlinale auch weiterhin noch an barrierefreien Veranstaltungen zu bieten hatte. Zum Beispiel eine weitere Vorstellung von „Zirkuskind“, mit offener, einer für alle hörbaren Live-Audiodeskription, erweiterten Untertiteln

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Das Bild ist zweigeteilt. Links die Blindgängerin in einer dicken Winterjacke vor dem Delphi Filmpalast. Sie hält ein Glas Sekt in die Höhe. Rechts steht sie vor einem Plakat der Berlinale 2021, das eine Bärenfigur zeigt. Die Blindgängerin trägt Jeans und eine bunte Sommerbluse. Auch hier hält sie ein Glas in der Hand und prostet fröhlich lachend der Kamera zu.

Bärenstarker Auftakt

Da stehen wir, dicht an dicht vor verschiedenen Kulissen, ich und ich, und heben unsere Gläser AUFS KINO! Das eine Ich in dicker Winterjacke beantwortete bei frostigen Temperaturen vor dem geschlossenen Delphi Filmpalast folgende Frage: „Was machst du, wenn Corona vorbei ist?“Diese Frage stellte im Januar die Abendschau Berlinerinnen und Berlinern und so auch mir.Meine unschwer zu erratende Antwort gab es in dem liebevoll gemachten, leider nicht mehr verfügbaren Filmbeitrag „Sehnsucht 2021 – Kino“. Fünf Monate später, auch wenn Corona noch nicht ganz ausgestanden ist: Das andere Ich in sommerlicher Bluse kann es kaum abwarten, im eigens für die Berlinale auf der Museumsinsel eingerichteten Freiluftkino endlich wieder einen Film auf der großen Leinwand zu erleben. Und dann noch einen und noch einen! Einen besseren Auftakt meiner endlich wieder möglichen Kinosaison als mit dem Berlinale Summer Special hätte ich mir nicht wünschen können. Der war einfach bärenstark! Drei großartige Filme in drei wunderschönen Freiluftkinos bei traumhaftem Wetter mit gekühlten Getränken in fröhlich entspannter Atmosphäre! „Nebenan“ von Daniel Brühl im Freiluftkino Friedrichshain„Ich bin dein Mensch“ von Maria Schrader im Freiluftkino Museumsinsel„Fabian oder der Gang vor die Hunde“ von Dominik Graf im ARTE Sommerkino Schloß Charlottenburg Bei den Orten fällt mir die Entscheidung recht leicht, das lauschige Freiluftkino Friedrichshain gefiel mir am besten. Die Filme spielen alle in Berlin, einmal in der Gegenwart, der näheren Zukunft und der Vergangenheit.Ich empfehle unbedingt alle drei! Die Audiodeskriptionen gab es über die Greta App und da war meine Favoritin die für „Ich bin dein Mensch“, gefolgt von der von „Fabian“. Bei „Nebenan“ fand ich die Sprecherin sehr gut, die Sätze waren aber oft zu lang und ein bißchen verschraubt. Statt objektiv zu beschreiben, wurde häufig gewertet.Die Greta App hat mit neuem Gesicht, aber gewohnter Bedienbarkeit immer super funktioniert. Zum Schluß ein ganz großes Dankeschön an: Die Berlinale für das kleine, aber feine barrierefreie Angebot!Das freundliche Team am Inklusions-Ticketschalter und den noch nie so unkomplizierten Kartenerwerb!An Anke Nicolai und ihr Team fürs Zusammenstellen der Filme bei der Greta App und das freundliche und aufmerksame in Empfang nehmen der Nutzerinnen und Nutzer der App bei den jeweiligen Vorstellungen! In der Musiktheorie verwendet man den Begriff Auftakt für den Anfang eines Musikstückes, das nicht mit einem vollständigen Takt beginnt.So ist es auch gerade mit den Kinos, die zwar abgesehen von den Freiluftkinos nur vereinzelt schon geöffnet haben, aber insgesamt und bundesweit dann am 01. Juli durchstarten.Ich bin guter Dinge, daß kein Delta, Gamma oder sonst was dazwischenfunkt!

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In dem Gang eines Getränkemarktes steht die Blindgängerin mit einer Kiste Mineralwasser in den Händen. Neben und hinter ihr sind Getränkekisten gestapelt, teilweise bis zur Decke.

In den Gängen

Ein kleiner Unterschied bei der Zeichensetzung, ein großer Unterschied für die Bedeutung! Vom Leerzeichen hängt’s nämlich ab, ob jemand hochstapelt, also mit betrügerischer Absicht eine hohe gesellschaftliche Stellung vortäuscht, oder hoch stapelt und so seiner Arbeit in einem Großmarkt nachgeht. Wer in Supermärkten einkauft, begegnet ihnen in den Gängen, den Männern und Frauen in einheitlicher Arbeitskleidung, die für Nachschub in unseren Konsumtempeln sorgen. Ich höre sie manchmal durch die Regale miteinander flachsen. Sie begleiten mich bei meinen Einkäufen und beraten und helfen auch der sehenden Kundschaft freundlich bei der Suche nach den gewünschten Produkten. Zum Beispiel wird Marion von der Süßwarenabteilung nach Schokolinsen gefragt. Lächelnd verschwindet sie mit dem Kunden um die Ecke und läßt Christian von der Getränkeabteilung stehen, mit dem sie gerade ein Schwätzchen gehalten hat. Wer diesen beiden und deren Kollegen begegnen möchte, was ich wärmstens empfehle, kann dies nur im Kino mit Thomas Stubers Film „In den Gängen“ In der liebenswerten ca. neunköpfigen Truppe herrscht ein harmonischer Umgangston. Sie halten zusammen und einen gigantischen Großmarkt irgendwo in der ostdeutschen Provinz am Laufen, wo gesächselt wird. Bier, Wasser, Saft und Wein kaufen wir seit Jahren in demselben Getränkemarkt bei uns um die Ecke ein. Dort stapelt das Personal in roten T-Shirts die Kästen von Hand aufeinander. Im Großmarkt tragen alle blaue Arbeitskittel. Die Kästen sind auf Paletten fixiert und werden mit einem Gabelstapler in Regale viele Meter hoch gestapelt. Das ist Brunos Reich (Peter Kurth). Meisterhaft beherrscht er seinen Stapler und jongliert mit Europaletten in schwindelerregender Höhe. Als ihm Christian (Franz Rogowski) als Helfer an die Seite gestellt wird, nimmt er den jungen Mann väterlich unter seine Fittiche. Aber bevor Bruno den „Frischling“ anlernt, geht’s erst einmal „in die 15“, so heißt hier die kleine Zigarettenpause zwischendurch. Den Spitznamen „Frischling“ bekommt Christian von Marion (Sandra Hüller) verpaßt, die er vom ersten Augenblick an nicht mehr aus den Augen läßt. Christian ist die zentrale Filmfigur und auch die schweigsamste! Und in Marions Gegenwart, die er so oft wie möglich sucht, bekommt er fast überhaupt kein Wort über die Lippen. Aber es gibt ja die kleine Torte statt vieler Worte und Marion plappert dafür um so mehr kokett flirtend auf ihn ein. In Marions, Brunos und vor allem Christians Leben außerhalb des Großmarktes gewährt der Film nur vage und angedeutete Einblicke. Aber da sind auch noch Irina von der Teigwarenabteilung mit ihrer markanten und verräucherten Stimme, Paletten-Klaus, der seine Ameise, einen Hubwagen mit Elektroantrieb, gegen jeden verteidigt, und Jürgen in dem Zigarettenhäuschen. Dort verkauft er die Rauchware stangenweise und hat immer ein Schachspiel vor sich. Was diese drei privat umtreibt, bleibt außen vor. So auch bei den übrigen, bei denen ich Namen und Personen leider nicht mehr zusammenbringen kann, obwohl ich ihnen damit unrecht tue. Denn alle in den Gängen dieses Großmarktes lassen einen vergessen, daß dies auf der Leinwand geschieht und man selbst gar nicht beim Einkaufen ist! Das ist das Verdienst der Darsteller, des Regisseurs Thomas Stuber und das von Clemens Meyer, der drei Jahre als Gabelstaplerfahrer in einem Großmarkt gearbeitet hat. Seine Kurzgeschichte über diese Lebensphase ist die Grundlage des Drehbuchs. Ich denke, deshalb gehen die Filmfiguren so vertraut und routinemäßig ihrer Arbeit nach, oft ohne viel dabei zu sprechen. Umso wichtiger war die Audiodeskription über die Greta und Starks App! Wer hätte mich sonst während der vielen Dialogpausen auf dem Laufenden gehalten und mich bei den teils waghalsigen Gabelstaplermanövern mitzittern lassen? Entgangen wäre mir auch Marions und Christians zärtliche Eskimobegrüßung in „Sibirien“, dem Kühlraum des Marktes. Ich habe jedes Wort der großartigen Sprecherin mit Genuß in mich aufgesogen und auch die Filmmusik, die das Geschehen den Stimmungen entsprechend abrundet, wie z.B. den genialen Großmarktblues zur Nachtschicht, wie ich ihn nenne! Bevor meine Schicht jetzt und hier zu Ende geht, noch eines: Erst zwei Monate nach Kinostart kam ich in die Gänge und die führten mich in das einzige Programmkino meines Bezirks fast um die Ecke. Oft liegt das Gute so nah. Das Jahresfilmprogramm im „Kino im Kulturhaus Spandau“ wurde schon mehrfach als herausragend ausgezeichnet. Und das werde ich künftig im Blick behalten!

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Drei Schüler, zwei Jungen und ein Mädchen, vor einem alten Bücherregal

Das schweigende Klassenzimmer

Silber ist schon sehr edel, kann aber mit dem ca. achtzigmal so wertvollen Gold nicht mithalten! In dem unterschiedlichen Wert dieser beiden Metalle ist ein althergebrachtes und weitverbreitetes Sprichwort begründet. Danach rangiert Schweigen weit vor dem Verbreiten unpassender und überflüssiger Bemerkungen. Um Silber oder Gold geht es bei „Das schweigende Klassenzimmer“ allerdings nicht! Hier hat die Entscheidung zu reden oder zu schweigen für alle Beteiligten weitreichende und dramatische Folgen. Denn Reden bedeutet Verrat und Schweigen Loyalität! Den Namen des Rädelsführers wollen sie um jeden Preis erfahren, das Schulrektorat, die Kreisschulrätin und vor allem der Volksbildungsminister der DDR. Ich darf den Namen des Gesuchten schon einmal verraten, es ist der Abiturient Kurt (Tom Gramenz). Ende Oktober 1956 ist es seine Idee, der gerade zu beklagenden Opfer des ungarischen Volksaufstands zu gedenken, mit zwei Schweigeminuten während des Geschichtsunterrichts. Bis auf einen Mitschüler stimmt die gesamte Abiturklasse eines Gymnasiums im brandenburgischen Stalinstadt zu. Das Klassenzimmer schweigt für zwei Minuten. Nur der linientreue Geschichtslehrer tobt sich lautstark in Rage! Was für eine harmlose Art der Meinungsäußerung und Solidaritätsbekundung, könnte man meinen. Aber die Schulbehörden der erst vor sieben Jahren gegründeten DDR verurteilen das Schweigen als konterrevolutionären Akt, der mit aller Härte geahndet werden muß. Und so besteht die Gefahr, daß das schweigende Klassenzimmer auch zu einem „fliegenden“ wird! Der Volksbildungsminister droht, die gesamte Klasse mit sofortiger Wirkung der Schule zu verweisen und auch in der gesamten DDR nicht mehr zum Abitur zuzulassen. Es sei denn, einer der Schüler bricht sein Schweigen. Einer hat das übrigens getan! Zum Glück, denn sonst gäbe es diesen großen Film nicht. Dietrich Garstka erfuhr genau das, was in dem Film erzählt wird, am eigenen Leib und schrieb darüber in seinem Sachbuch. 50 Jahre nach den dramatischen Ereignissen, in deren Verlauf seine Abiturklasse 1956 mit den höchsten Stellen des DDR-Staatsapparates in Konflikt geriet, erschien „Das schweigende Klassenzimmer“. Ich könnte mir vorstellen, daß sich ein Regisseur bei der Aufbereitung eines geschichtlichen Themas besonders über Komplimente von Zeitzeugen freut. Meine Schwiegermutter meinte bei vielen Szenen: „Genau so hat das damals ausgesehen und so war das bei mir auch!“ Dieses Kompliment gebe ich sehr gerne an den Regisseur Lars Kraume, der auch das Drehbuch schrieb, und natürlich an sein großartiges und teils sehr junges Team weiter! Nicht nur bei den im Klassenzimmer abgehaltenen Schweigeminuten war ich sehr dankbar für die erklärenden Worte der Hörfilmbeschreibung über die App Greta in meinem Ohr. Mit den Schülern, deren Eltern und der Obrigkeit kamen doch eine ganze Menge Personen zusammen, die eingeführt und beschrieben werden mußten. Aber es wurde weder zu viel geredet, noch zu lange geschwiegen! Und über ein Wiederhören mit der Sprecherin, die ich sehr schätze, habe ich mich auch sehr gefreut. Im vollbesetzten Kinosaal blieb es nach der Vorstellung noch ein Weilchen sehr still! Als ob die Kinobesucher mit ihren Gedanken noch ein bißchen bei den charakterstarken Schülern bleiben wollten. Mir ging es jedenfalls so!

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Django Reinhardt mit der Gitarre auf der Bühne. Weißer Anzug, weinrotes Hemd mit Krawatte. Die dunklen Haare streng zurückgekämmt, dazu ein kleiner Schnurrbart. Django schaut beim Spielen auf seine linke Hand, die Greifhand.

Django – ein Leben für die Musik

Ein- beziehungsweise beidhändig agieren sie alle drei blitzschnell und mit flinken Fingern präzise auf den Punkt: Ihr Name ist Django! Zwei sind Revolverhelden und beweisen ihre todbringende Fingerfertigkeit nur als rein fiktive Filmfiguren. Der Erste bereits vor 51 Jahren in dem Italowestern „Django“ und Nummer zwei in dem US-amerikanischen Spielfilm „Django Unchained“ von 2012. Über den Dritten im Bunde startete jetzt am 26. Oktober ein Kinofilm aus Frankreich! „Django – Ein Leben für die Musik“ Das Team der Kinoblindgänger gemeinnützige GmbH war von dem Filmportrait des legendären, natürlich nicht fiktiven Jazzgitarristen Django Reinhardt genauso fasziniert wie das des Berlinale Festivals. Deshalb gibt es für den diesjährigen Berlinale-Eröffnungsfilm jetzt zum regulären Kinostart eine Marie! Sie macht mit der Audiodeskription und den erweiterten Untertiteln, produziert und finanziert von der Kinoblindgänger gGmbH, diesen großartigen Film für alle barrierefrei erlebbar. Dazu gehört wie immer auch die Bereitstellung der Marie (barrierefreie Fassung) auf der App Greta und Starks. Das übernahm für „Django“ der Verleih. Dafür ein herzliches Dankeschön an den „Weltkino Filmverleih“! Django Reinhardt wurde als Sohn französischsprachiger Sinti 1910 in Belgien geboren. Nach einigen Jahren mit seinen Eltern in Nizza, Italien, Korsika und Nordafrika wuchs er ab 1918 in einer Wohnwagensiedlung am Stadtrand von Paris auf. Schon als 12-jähriger begann er seine professionelle Musikerkarriere. Der französische Regisseur Étienne Comar konzentriert sich in seinem Spielfilm auf Djangos Leben ab 1943 und endet mit einer sehr berührenden Szene kurz nach Kriegsende im Mai 1945. Der virtuose Gitarrist gilt als Begründer und Vorreiter des europäischen Jazz und schuf mit dem Gypsy-Swing einen neuen Musikstil. Dieser Rhythmus, daß jeder mit muß! (singt Udo Lindenberg) Und dieser Hörschnipsel mit Audiodeskription ist der beste Beweis! Hörschnipsel 1: Hoppla, beinahe wäre die Marie der Kinoblindgänger gGmbH vor Begeisterung von ihrem Filmstreifen gepurzelt! Diese Kostprobe stammt von einem Konzert des berühmten Quintette du Hot Club de France im einem Pariser Theatersaal im Sommer 1943. Django spielt die Solo-, sein Bruder Joseph die Begleitgitarre. Djangos Welt, in der nur Platz für Musik ist, scheint bis dahin in Ordnung zu sein. Sogar im Konzertsaal anwesende uniformierte Nazis können sich dem Bann der doch als „Negermusik“ verpönten Rhythmen nicht ganz entziehen. Aber schon am selben Tag ziehen dunkle Wolken am Horizont auf. Reichspropagandaminister Goebbels zitiert Django mit seinen Mitspielern ins Deutsche Reich, für eine Tournee zur Erheiterung der deutschen Soldaten. Zunächst hindert ihn nur seine gekränkte Musikerehre, der Order Folge zu leisten. Denn die absurden Auflagen der Nazis, was er wie zu spielen und vor allem nicht zu spielen habe, lassen von seiner Musik nicht mehr viel übrig. Aber schließlich erkennt auch er den Ernst der Lage. Er flieht mit seiner schwangeren Frau und seiner Mutter in die Nähe der Schweizer Grenze, wo sich bereits einige Familien seines Clans mit ihren Wagen versammelt haben. Dort wird die Situation für alle Beteiligten mit jedem Tag bedrohlicher. Der folgende Hörschnipsel gehört zu meinen Lieblingsstellen des Films. Er „zeigt“ Djangos obercoole Maman, dargestellt von Bimbam Merstein, in ihrem Element. Hörschnipsel 2: In dem Hörschnipsel ist neben den Filmfiguren nicht nur Nadja Schulz-Berlinghoff, die Sprecherin der Audiodeskription, zu hören. Denn die auf Romanes geführten Dialoge, die als Untertitel eingeblendet sind, werden von Susanne Hauf, Andreas Sparberg und Pascal Cürsgen gesprochen. Den Text der Hörfilmbeschreibung erarbeitete das sehr gut eingespielte Trio, das aus Inga Henkel, Lena Hoffmann und mir besteht. Besonders aufmerksam schauten wir Reda Kateb, dem Darsteller des Django, beim Gitarre spielen auf die Finger seiner linken Hand. Der wahre Django konnte nach einem Brandunfall nur noch mit zwei statt mit vier Fingern die Saiten greifen. Kleiner Finger und Ringfinger waren verkrümmt und versteift, ihm blieben nur Zeige- und Mittelfinger. Bei Akkorden behalf er sich zum Greifen der tiefen E-Saite mit dem Daumen, der auf dem Griffbrett eigentlich nichts zu suchen hat. Vor diesem Hintergrund sind die Tempi, mit denen Django seine Läufe spielte, um so phänomenaler! Bei Reda Kateb, der vor den Dreharbeiten ein Jahr lang diese Art des Gitarrenspiels einübte, konnten wir diese ganz spezielle Technik beobachten und haben das auch genau beschrieben. Optisch wirkt das sehr glaubwürdig. Für den akustischen Genuß sorgte tatsächlich aber der niederländische Gitarrist Stochelo Rosenberg, der die Stücke seines Idols Django für den Film neu einspielte. Ein Leben ohne Musik ist für mich undenkbar und deshalb ist ganz klar, welcher der drei Djangos mir der liebste ist!

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Filmstill aus "Tiger Girl": Die beiden Tigergirls in schwarzen Uniformen mit der Aufschrift "Security" auf dem Rücken laufen über eine Wiese im Park. Die vordere trägt ihr blondes langes Haar zu einem Zopf, darüber ein Basecap. Im Hintergrund sitzen zwei Leute im Gras.

Tiger Girl

Laß die zwei jungen Frauen einfach drauflos spielen, ist die Devise des Herrn Lass. Mal schauen, wo die „Reise“ dann hingeht. Geographisch gesehen, beginnt und endet alles aber auch nur beinahe vor meiner Haustür. Die Streifzüge von Ella Rumpf als Tiger und Maria Dragus als Vanilla finden natürlich in dem angesagteren Teil Berlins statt, in dem das Leben tobt, und nicht im eher beschaulichen Spandau. Vielleicht war es deshalb aussichtslos, ein Kino halbwegs in meiner Nähe zu finden, in dem der Film „Tiger Girl“ gezeigt wird. Dem Ur-Spandauer wird nachgesagt, seinen Bezirk nur höchst ungern über eine der drei Brücken über die Havel zu verlassen und, wie er meint, „nach Berlin“ zu fahren. Ich als Zugezogene genieße das etwas ruhigere Leben im Grünen mit viel Wasser sehr. Genau so gerne stürze ich mich aber in das kulturell übersprudelnde Chaos jenseits der Havel. So beispielsweise für „Tiger Girl“ ins tiefste Kreuzberg zum Kottbusser Damm Nr. 22. Dort im ersten Stock ist das von den Betreibern mit viel Herzblut und Engagement geführte Kiezkino Moviemento. Nach dem Kino wieder auf der Straße, kamen plötzlich Tiger und Vanilla in geklauten Uniformen an mir vorbeipatrouilliert, um nach ihren unkonventionellen Vorstellungen für Recht und Ordnung zu sorgen. Nein, natürlich nicht! Aber so abwegig ist der Gedanke gar nicht. Häufig waren die belebten Straßen und Parks Berlins die Kulisse, genau so, wie sie nun einmal sind. In diesem sogenannten dokumentarischen Umfeld ließ der Regisseur Jakob Lass seine Hauptfiguren Tiger und Vanilla recht frei agieren. „Frei“ bedeutete hier ohne vorgegebene Dialoge und mit nur sehr allgemein gehaltenen Ansagen über den Verlauf seiner Filmgeschichte, in der es um die Freundschaft zweier total verschiedener Frauen Anfang 20 geht. Absolut unvorhersehbar, unberechenbar, schnell, witzig, liebevoll und sanft, aber auch brutal geht es dabei zu, wie das Leben eben so pinkelt! Besonders überraschend ist das Ende, da hat sich wohl bei allen im Kinosaal ein fettes Grinsen breitgemacht! Und ohne die Audiodeskription über die App Greta hätte ich bestimmt nicht mitgrinsen können. Zum Schluß geht es noch einmal richtig rund und dabei fallen nur wenige klärende Worte. Eine große Herausforderung muß die Beschreibung der Kampfszenen gewesen sein, wessen Bein oder Faust bei den teils akrobatisch und tänzerisch anmutenden Choreographien welchen Körperteil des Gegners oder der Gegnerin traf. Darüber war ich immer bestens im Bilde. Das gilt auch für Tigers und Vanillas grundverschiedenes Äußeres mit ihren ständig wechselnden Outfits. Genauso unverwechselbar wie das Erscheinungsbild der beiden waren ihre Stimmen, was mir sehr beim Sortieren der Akteure half. Hätte mir die Audiodeskription eine junge, kecke, weibliche Stimme ins Ohr geflüstert, wäre der Hörgenuß einfach perfekt gewesen. Die mir wohlvertraute Stimme des Sprechers mit einem wenn auch nur sehr dezent bayerischen Einschlag, die ich prinzipiell sehr gerne höre, wollte sich für meine Ohren nicht so recht in das Ganze einfügen. Aber das niedrig angesetzte Budget für den Film und damit auch für die Audiodeskription ließ wohl keinen Spielraum, externe Sprecher zu engagieren. Jakob Lass und sein Team konnten sich übrigens über die Unterstützung der fast ein bißchen verschwörerisch klingenden Initiativen „Alpenrot“ und „Leuchtstoff“ freuen. Deutschlands größter Filmproduzent Constantin Film und der RBB mit dem Medienboard Berlin-Brandenburg wollen damit genau solche jungen, engagierten und experimentierfreudigen Filmemacher fördern. Aus dieser Ecke sind bestimmt noch spannende Projekte zu erwarten! Zum Schluß lasse auch ich, und zwar die Filmlöwin zu Wort kommen! Sie hat sich schon während der Berlinale an „Tiger Girl“ herangepirscht, wo der Film in der Sektion Panorama Special seine Premiere feierte. Ob sie ihre scharfen Krallen ausgefahren und ihre Raubkatzen-Kollegin in Streifen gefetzt oder wohlwollend schnurrend mit Samtpfoten angepackt hat? Hier steht‘s geschrieben: http://filmloewin.de/berlinale-2017-tiger-girl/  

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In einem Garten stehen sich zwei Frauen gegenüber, bei beiden handelt es sich um die Blindgängerin. Die linke hat das Haar mit einem Holzstäbchen hochgesteckt und trägt einen roten Kimono mit goldenen Stickereien und schwarzen Borten. Die rechte hat das schulterlange Haar offen und trägt über einer weißen Rüschenbluse ein blauweißkariertes Dirndl mit rosa Schürze. Beide neigen leicht die Köpfe und halten zur Begrüßung die Hände zusammengelegt vor die Brust.

Grüße aus Fukushima

Dirndl trifft auf Kimono! Die deutsch-japanischen Beziehungen sind traditionell freundschaftlich und reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Ein Beleg dafür ist der im Januar 1861 zwischen Preußen und Japan geschlossene Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag. Zwei Jahre vor dem 150-jährigen Jubiläum der erstmals offiziell manifestierten Freundschaft vereinbarten beide Staaten, dieses im Jahr 2011 feierlich zu begehen. Allerdings wurde der Freude am Feiern am 11. März ein jähes Ende gesetzt. An diesem Tag waren aller schlechten Dinge drei: Ein Seebeben, ein Tsunami und die Kernschmelze in drei der sechs Reaktorblöcke des Kernkraftwerkes Fukushima! Auch fünf Jahre nach dem Super-GAU leben vor allem ältere Menschen in der Präfektur Fukushima immer noch in Notunterkünften. Sie sind Flüchtlinge in ihrer Heimat und eine Rückkehr in ihre zerstörten und radioaktiv verseuchten Dörfer und Häuser scheint eher unwahrscheinlich. Ähnlich wie alte Bäume möchten Menschen ab einem gewissen Alter nicht mehr so gerne entwurzelt und umgesiedelt werden. So harren die Senioren notgedrungen in den eigentlich nur provisorisch errichteten Containerdörfern aus und leben mehr oder weniger freudlos in den Tag hinein. Das ist die traurige Realität im Jahr 2016 und die schwarzweiße Filmkulisse von „Grüße aus Fukushima“. Dorthin macht sich Marie, Ende zwanzig, von Deutschland aus auf den Weg. Sie hat sich der Organisation Clowns4Help angeschlossen und möchte mit ihrem Clownskostüm im Gepäck den Containerbewohnern ein Lächeln in die Gesichter zaubern. Aber während die Alten ihrem Clownskollegen Moshe, wunderbar gespielt von dem echten Clown Moshe Cohen, fasziniert folgen und begeistert applaudieren, erntet Marie nur verständnislose Blicke. Auch ihr Versuch, die Senioren zum Schwingen der Hüften mit Hula-Hoop-Reifen zu animieren, scheitert kläglich. Wütend, vor allem über sich selbst, ist Marie drauf und dran, ihre Mission abzubrechen, die da lautet: Ich will anderen Menschen helfen, denen es im Vergleich zu mir wirklich schlecht geht, um mein eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aber sie bleibt, legt ihr zwanghaftes und nicht ganz uneigennütziges Helfersyndrom ab und rettet schließlich doch ein Leben und eine Seele. Radioaktivität kann man nicht fühlen, riechen, sehen oder hören, sondern nur messen. Bei ihrer Ankunft läßt das bedrohliche Rattern des Geigerzählers leichte Panik bei Marie aufsteigen. Man versucht, sie damit zu beruhigen, daß die Sperrzone mittlerweile freigegeben sei, also keine Gefahr mehr für Leib und Leben bestünde. Radioaktivität hin oder her, die alte Dame Satomi möchte um jeden Preis der Tristesse des Containerdorfes entfliehen und zurück zu ihren Wurzeln, dem zerstörtem Haus in der Sperrzone. Vielmehr als die Strahlenbelastung fürchtet sie die Erinnerungen an die Bilder der Katastrophe, die sie immer wieder heimsuchen. Besonders nachts quälen Satomi Schuldgefühle, weil sie auf Kosten des Lebens eines geliebten Menschen den Tsunami überlebte. Für solche Fälle hält die japanische Mythologie die viele Jahrhunderte alte Tradition der Yurei bereit. Diese den europäischen Gespenstern ähnlichen Totengeister sind die in der Welt der Lebenden gefangenen Seelen der Toten. Marie besiegt ihre Ängste vor der Radioaktivität und quartiert sich in Satomis Haus ein, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Jetzt läßt die Regisseurin Doris Dörrie den Frauen viel Zeit, sich kennen zu lernen und voneinander zu lernen. Das geschieht, abgesehen von einigen wenigen Gefühlsausbrüchen, ohne große Worte und mit vielen Gesten, sehr sensibel und glaubhaft gespielt von Rosalie Thomass und der japanischen Schauspielerin Kaori Momoi. Die vielen Dialogpausen wurden für eine Bildbeschreibung mit viel Liebe zum Detail genutzt. So kam auch ich einmal in den Genuß, den üblicherweise wortlosen Vorführungen der Tricks eines Clowns genauestens folgen zu können. Aber auch die Beschreibung der immer wieder eingeblendeten Bilder von dem Tsunami und den verheerenden Zerstörungen blieben mir nicht erspart. Immer noch erinnere ich mich gerne an die warme und ruhige Stimme der Sprecherin, ähnlich der von Senta Berger, über die App Greta in meinem Ohr. Allmählich findet Satomi, die letzte Geisha von Fukushima, wieder ins Leben zurück und schlüpft aus ihrer Jogginghose in ihren Kimono. „Kiru“ heißt anziehen, „mono“ das Ding und fertig ist das japanische Kleidungsstück Kimono, das einem Kaftan ähnelt. Zusammengehalten wird das Ganze mit einem Gürtel, dem Obi. Satomi versucht nun, der etwas ungelenken und für die japanischen Möbel zu großen Marie die Kultur des Teetrinkens im Fersensitz nahezubringen. Marie entledigt sich ihrer Jeans und streift sich ihr Dirndl über. In den oberdeutschen Dialekten bedeutet Dirndl junges Mädchen, was aber nicht bedeutet, daß in dem typisch bayerischen engtaillierten Trachtenkleid mit Schürze nur junge Mädchen stecken. Was der jungen Frau in ihrem Clownskostüm mißlang, glückt ihr in ihrem Dirndl. Als sie beschwingt von Sake zur Musik von Velvet Underground aus dem Autoradio so eine Art Schuhplattler hinlegt, schüttet sich Satomi aus vor Lachen. Die elegante Geisha Satomi lacht oder schimpft immer mit ihrer knarzenden Originalstimme mal auf japanisch und meistens auf englisch. Die Devise „Man spricht deutsch“ ist die Ausnahme in dem Film. Nur wenn es Marie allzu bunt wird, greift sie auf ihre Muttersprache zurück. Neben der Hauptsprecherin lasen deshalb zusätzlich fünf oder sechs weitere Personen die deutschen Untertitel der jeweiligen Filmfiguren mit viel Emotion in ihren Stimmen vor, ähnlich wie Synchronsprecher. Das war mir zeitweise fast schon ein bißchen zu viel, hat aber einen Grund. Bei der Aufbereitung der Hörfilmfassung für DVD und Fernsehen wird die Lautstärke der Originalstimmen stark heruntergeregelt, es sind dann, anders als im Kinosaal, die Stimmen der deutschen Sprecher im Vordergrund. Warum das so ist, habe ich vergessen zu fragen. Mich hat es jedenfalls sehr gefreut, im Kino die Originalstimmen von Marie, Satomi, dem alten Mönch und all den anderen, meist von japanischen Laiendarstellern gespielten Figuren, hören zu dürfen. Durch sie schickt uns Doris Dörrie auf ihre ganz persönliche Art Grüße aus Fukushima!

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Hail, Caesar!

Der Papa wird’s schon richten, der Papa macht’s schon gut, der Papa, der macht alles, was sonst keiner gerne tut. Ohne diesen Richtepapa wäre die Familie, über die Peter Alexander fröhlich in seinem Schlager von 1981 trällert, ganz schön aufgeschmissen. Ähnlich erginge es im Film „Hail, Caesar!“ einem gewissen Filmstudio im goldenen Zeitalter Hollywoods Anfang der 50er Jahre, wenn nicht Eddie Mannix alles richten würde. Gemeint ist das Studio „Capitol Pictures“, in dem gerade gleichzeitig die Dreharbeiten für einen Western, ein Matrosen-Musical, ein sogenanntes Aqua-Spektakel und ein neues elegantes Gesellschaftsdrama laufen. Aber die größte und alles andere in den Schatten stellende Produktion ist die Verfilmung des biblischen Schwert- und Sandalen-Epos „Hail, Caesar!“. Dieses Pensum zu bewältigen, scheint selbst dann fast unmöglich, wenn alles und jeder wie geschmiert funktioniert. Gleich bei seinen ersten mit ruhiger, tiefer und warmer Stimme gesprochenen Worten stellte ich mir unter Eddie einen älteren, freundlichen, gutmütigen und etwas abgespannten Herrn vor. Der Schauspieler Josh Brolin schätzt an seiner Filmfigur besonders deren väterliche Stärke, Eddie sei eine großartige Vaterfigur. Ich würde noch eine Generation zurückgehen, Eddie hatte für mich eher schon etwas Großväterliches. Das lag vielleicht an dem Synchronsprecher, dessen Stimme mich mal an Mario Adorf, mal an Willy Brandt erinnerte. Auch bei der äußeren Erscheinung des erst 48-jährigen Brolin wurde etwas nachgeholfen. Seine deutsche Stimme ist übrigens 20 Jahre älter. Auch der reale Eddie Mannix war ein Filmproduzent und Studiomanager und lebte von 1891 bis 1963. Für den Film änderten die Coen-Brüder dessen Charakter stark ab. Das kann im Umkehrschluß nur bedeuten, daß der wahre Mannix nicht unbedingt ein angenehmer Zeitgenosse war. In der öffentlichen Wahrnehmung, ganz besonders bei den Damen, ist natürlich George Clooney in der Rolle des Baird Whitlock der Superstar dieses Werkes. Eine Hauptrolle spielt er jedoch nur im FilmFilm, und zwar den Schwert- und Sandalenträger in dem biblischen Epos. Die Figur, die alles zusammenhält, ist aber ganz klar Eddie Mannix. Dabei hat der Zuschauer tausendfach seinen Spaß, Eddie wohl eher weniger. Wäre es doch blosso einfach, „bloß so“ korrekt zu betonen, wie aus einer Spaghetti ein Lasso zu knoten! Der Darsteller des Westernhelden Hobie Doyle (Alden Ehrenreich) kann seine Rolle auch im Alltag nicht ablegen. Dabei sind seine Stärken eindeutig waghalsige Stunts mit Pferden und der Umgang mit dem Lasso. Sich kultiviert auszudrücken, fällt ihm dagegen schwer, erst recht vor laufender Kamera. In einen Anzug gezwängt, scheitert er in seiner neuen Rolle in dem neuen Gesellschaftsdrama, was auch immer das sein mag, bei den Wörtchen „bloß so“ und spricht diese wie Lasso, also „blosso“ aus. Mich würde einmal interessieren, wie sich das in der englischen Originalfassung anhört. Wo er geht und steht, knotet er alles, was er in die Finger bekommt, zu einem Lasso. Nicht einmal die Spaghetti auf dem Teller sind vor seinen Fingern sicher, und das bei einem Abendessen in weiblicher Begleitung. Diese Wirrung mit der Nudel ist nur eine von unzähligen Szenen, für deren Beschreibung trotz vieler Dialoge Zeit blieb. Während sich die Hörfilmbeschreiber wegen der Bilderflut oft beinahe überschlagen mußten, konnte ich mich in meinem Kinosessel genußvoll zurücklehnen und dank der App Greta entspannt der Audiodeskription lauschen. Besonders toll beschrieben war die Choreographie der Wassernixen bei dem Aqua-Spektakel. Bei dem leicht obszönen Stepptanz der Matrosen in dem Musical kam ich doppelt auf meine Kosten. Steppen ist wie Percussion mit den Füßen und was die Mannsbilder dabei so anstellten, wurde mir genauestens zugeflüstert. Aber wenn es den Autoren auch noch so in den Fingern juckt, wenn gesprochen wird, hat die Audiodeskription eben Pause. Ganz besonders gejuckt haben muß es bei dem Gag, als ein ans Kreuz genagelter Statist während der glühenden Abschlußrede des Schwert- und Sandalenträgers gelangweilt gähnte und sich am Bein kratzte. Ihn hat es wohl auch gejuckt. Noch vieles, vieles mehr ließen sich die Coen-Brüder einfallen, um das von ihnen verehrte altehrwürdige Hollywood in all seinen Facetten noch einmal aufleben zu lassen. Für mich hat Hollywood noch eine ganz andere Bedeutung, es ist nämlich der Namensgeber für mein Lieblingsgartenmöbel. Anfang der 50er Jahre kam durch verschiedene Filme aus der Traumfabrik der Durchbruch für die Hollywoodschaukel in Europa. Sie wurde schnell zum Symbol sich modern und mondän gebender Freizeitgestaltung zur Zeit des Wirtschaftswunders. Eddie kann vor Streß nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden, sich von einer Verandaschaukel sanft hin und her wiegen zu lassen. Aber zu guter Letzt sind im Film alle Filme im Kasten und die durchgeknallte Cutterin kann Hand anlegen. Sogar für die Außenaufnahmen findet sich trotz Dauerregens eine Lösung. Alle seine Schützlinge sind zufrieden und auch der Richtegroßpapa kommt mit sich ins Reine. Das muß er auch, weil bald heißt es wieder: „Klappe, die erste! And action…!“

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45 Years

Das Edelmetall Silber ist ein chemisches Element, hat eine weißliche Farbe und wird vorzugsweise zu Schmuck verarbeitet. Messing ist das Produkt einer künstlich erzeugten Legierung aus den Metallen Kupfer und Zink. Seine Farbe variiert zwischen goldbraun und goldgelb, je nach der Konzentration des Kupfer- oder Zinkanteils. Aus Messing werden Türklinken und Kerzenständer gefertigt, Messingbeschläge zieren alte Holzboote. Bei der diesjährigen Berlinale gab es gleich zweimal Silber für eine Messinghochzeit. Mit den Silbernen Bären honorierte die Jury die herausragende schauspielerische Leistung der Hauptdarsteller Charlotte Rampling und Tom Courtenay in dem Film „45 Years“. Die beiden stecken als das Ehepaar Kate und Geoff Mercer in einem Vorbereitungscountdown für ein großes Fest, mit dem sie ihren 45. Hochzeitstag, die Messinghochzeit, feiern möchten. Seit langem werden Hochzeitsjubiläen feierlich begangen und jeder Feiertag hat einen eigenen Namen mit entsprechenden Bedeutungen und Bräuchen. Los geht es bereits mit dem ersten Jahrestag, der Papierhochzeit. Im 18. Jahrhundert gab es den Brauch, daß sich die Eheleute nach 35 Jahren zur Leinwandhochzeit auf einer Leinwand verewigen ließen. Hätte ich geheiratet, feierte ich dieses Jahr die Perlenhochzeit. Auch ohne das behördlich dokumentierte und kirchlich abgesegnete Ja-Wort reihen sich 30 Perlen auf der Perlenkette, einfach nur aus Liebe, erst recht ein Grund zum Feiern! Üblicherweise werden Hochzeitsjubiläen zwischen den Eheleuten oder im engsten Familienkreis begangen. Kate und Geoff wollen ihre Messinghochzeit genau so wie damals ihre Hochzeit feiern: Mit einem rauschenden Fest in einem festlich geschmückten großen Saal, mit all ihren Freunden. Wie beim Messing das Kupfer und das Zink, gehen die Ehepartner eine Verbindung ein. Nach 45 Jahren sind sie aufeinander eingespielt und eine Trennung scheint höchst unwahrscheinlich. Sinnbildlich ist die Ehe nun genauso hart und schwer verformbar wie Messing. Soweit jedenfalls die Theorie! Mitten in die Vorbereitungen des Jahrestages flattert ein an Geoff adressierter Brief aus der Schweiz ins Haus. Die Schweizer Behörden teilen ihm mit, daß man jetzt seine vor 50 Jahren tödlich verunglückte Jugendliebe aus einer Gletscherspalte bergen konnte. Bei einer gemeinsamen Wanderung, begleitet von einem ortskundigen Führer, war Katya damals vor Geoffs Augen in die Tiefe gestürzt. Dieser Brief vermag es, sowohl die Alltagsroutine als auch den Hochzeitstagsvorbereitungsmarathon empfindlich zu stören. Die Kameraführung läßt sich viel Zeit, die Blicke und Gesten der beiden einzufangen, mit denen sie ihre sich langsam ändernden Gefühle für einander zum Ausdruck bringen. So nahe sich Kate und Geoff zu sein schienen, so erschreckend ist es anzuschauen, wie sich Kate allmählich in die Eifersucht auf Geoffs Liebe weit vor ihrer Zeit hineinsteigert und alles heutige in Frage stellt. Geoff wird von der Nachricht 50 Jahre zurückkatapultiert. Er hängt den Erinnerungen an seine erste große Liebe nach und sein Interesse an den Vorbereitungen für den großen Tag bewegt sich gegen null. Als Kate ihn so lange löchert, bis er offen ausspricht, daß er Katya geheiratet hätte, die auch noch ein Kind von ihm erwartete, gibt ihr das den Rest. Der Volksmund sagt, die Augen seien das Tor zur Seele. Geöffnet wird das Tor über den Augenkontakt. Mit einem Blick in die Augen läßt sich die Gefühlsregung des Gegenübers ergründen und Nähe aufbauen. Um sich zu verstehen, reichen Blicke und es bedarf keiner Worte. Diese Möglichkeit der Kommunikation, von der Kate und Geoff reichlich Gebrauch machen, bleibt mir leider versagt. Ich brauche das gesprochene Wort oder zumindest ein zu hörendes Seufzen, Atmen, Ächzen, und versuche anhand der Stimmung der Stimme, die Gefühlsstimmung zu erraten. Schon die kleinste Veränderung der Mimik, z.B. der Mundwinkel oder der Augenbrauen, wirkt sich für mich hörbar auf die Stimme aus. Man wird wohl kaum im Brustton der Überzeugung etwas in die Welt posaunen und dabei überrascht eine Augenbraue nach oben ziehen. Sehr treffend hat es ein Texter namens Günther Damm 1968 auf den Punkt gebracht: „Wenn die Augen das Tor zur Seele sind, sind die Ohren der Geheimgang.“ Aber was nutzen mir meine Ohren, wenn eben nicht gesprochen, sondern nur geblickt und gestikuliert wird? Die Rettung ist wieder einmal die Hörfilmbeschreibung. Neben „Fack ju Göhte 2“ ist „45 Years“ der zweite am Donnerstag vor zehn Tagen gestartete Film, bei dem die Hörfilmbeschreibung mit der App von Greta über den Geheimgang in mein Ohr gelangte. Selten haben die Bildbeschreiber die Gelegenheit, die Menschen, ihr Verhalten und das Umfeld so detailliert zu beschreiben, wie bei diesem Film der wenigen Worte. Ich glaube, kein Blick, Achselzucken, zur Seite schauen, einfach jede noch so minimalistische Nuance und Veränderung der Körperhaltung und der Mimik wurde mir vorenthalten. Das Haus der beiden habe ich mir vor meinem geistigen Auge eingerichtet. Dank der Spaziergänge Kates mit dem Hund Max konnte ich mir auch von der ländlichen Gegend der britischen Grafschaft Norfolk eine Vorstellung machen. Max‘ Beschreibung wurde, glaube ich, vergessen. Der Text der Bildbeschreibung hat mir sehr gut gefallen. Mit der Stimme der Sprecherin, oder vielmehr ihrer Sprachmelodie, konnte ich nicht so recht warm werden. Trotz aller Irrungen und Wirrungen der Gefühle lassen sich zu guter Letzt die Eheleute dann doch von ihren Freunden zur Messinghochzeit gratulieren und feiern. Geoff kämpft bei seiner Ansprache an die Geladenen mit den Tränen. Er eröffnet mit Kate zu ihrem Song von damals den Tanz, der vielleicht der letzte der beiden sein könnte. Eine sehr nette Frau hatte mich schon an der Kinokasse unter ihre Fittiche genommen und wir verließen beide gleichermaßen beeindruckt von dem Film das Kino. Ich konnte sie allerdings nicht wirklich davon überzeugen, daß und wie sich mir der für die Augen gemachte Film nur über die Ohren erschließen konnte.

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Der Sommer mit Mamã

Dieser alles auf den Kopf stellende Sommer mit Mama spielt sich hauptsächlich auf einem sehr luxuriösen Anwesen in der brasilianischen Metropole São Paulo ab und endet dort mit einem Befreiungsschlag im Swimmingpool. Mit durchschlagendem Erfolg hat sich der Film bereits im letzten Winter bei der Berlinale gegen die Konkurrenz durchgesetzt und den Panorama Publikumspreis gewonnen. Ohne die konkurrierenden Filme zu kennen: Ich hätte bestimmt auch für den „Sommer“ gestimmt und das nicht etwa, weil ich im Februar den Winter schon mehr als leid bin. Ich denke, die eigentliche Preisträgerin des Publikumspreises ist Val (Regina Casé), die gute Seele nicht nur des Filmes, sondern auch des Hauses mit dem bedeutungsschwangeren Swimmingpool. Val ist die Abkürzung für den schönen Mädchennamen Valerie, der seine Wurzeln in dem lateinischen Verb „valere“ (gesund sein, stark sein) hat. Seit über zehn Jahren kümmert sich Val als Haushälterin und Kindermädchen um Wohl und Wehe der drei Bewohner des Latifundiums, und das so ziemlich rund um die Uhr. Wenn sie nicht den inzwischen 17-jährigen Sohn des Hauses Fabinho mit ihrer Liebe und Fürsorge überschüttet, hat sie damit zu tun, die pausenlos geäußerten Wünsche ihrer Herrschaften zu erfüllen. Das einzige, was die Bewohner alleine bewerkstelligen, ist es, die Gabel oder das gerade servierte Getränk zum Munde zu führen. Auch der verwöhnte Sprößling wird frühzeitig an seinen Status als Befehlsgeber herangeführt. Der Herr des Hauses, Herr Carlos, wurde mit dem berühmten goldenen Löffel im Mund geboren und ermöglicht so seiner Familie ein sorgenloses und luxuriöses Leben. Neben Val gibt es auch noch eine Putzfrau und einen Chauffeur. Gelangweilt und ein bißchen lebensmüde schleppt sich Carlos durch den Tag und wird von Val ständig an das Einnehmen seiner Medikamente erinnert. Dagegen strotzt die Dame des Hauses, Frau Barbara, vor Energie, allerdings nur, um sich selbst darzustellen und an ihrer Karriere in der Modebranche zu basteln. Ihre Rolle als Mutter hat sie für die letzten zehn Jahre dankbar an Val abgetreten. Anhand der Stimmen und dem, was sie wie sagen, habe ich mir ein Bild von den drei Figuren gemacht. Der Lektor hat sich einfach den Trailer angeschaut und dann haben wir unsere Ergebnisse verglichen. Von den Stimmen auf das Äußere zu schließen kann ganz schön schief gehen, aber hier lag ich gar nicht so falsch. Meiner Namensvetterin habe ich ein ziemlich unsympathisches Äußeres verpaßt. Ihre Stimme klingt mal schrill, mal genervt, und immer aufgesetzt. Das entspricht auch ihrer Erscheinung, wie sie sich kleidet, schminkt und frisiert. Wenn sie sich überhaupt zu Hause blicken läßt, stolziert sie Befehle erteilend durch die Räumlichkeiten und beendet jeden zweiten Satz mit „Schätzchen, Küßchen“. Unter Val habe ich mir eine etwas kräftiger gebaute robuste Frau vorgestellt, die ihr Päckchen zu tragen hat und mitten im Leben steht. Ihre tiefe Stimme klingt mal energisch streng, mal müde, mal gütig warmherzig, oder sie lacht ihr ehrliches befreiendes Lachen. Sie ist keine Schönheit, aber wenn sie ihr Lachen lacht, werden ihre kantigen Gesichtszüge weich und ihre Augen funkeln lebenslustig. Der Mann des Hauses geht mit seiner angenehm ruhigen und leisen Stimme zwischen den beiden Frauen etwas unter. Er hat in mir nicht gerade die Vorstellung eines glutäugig schwarzgelockten temperamentvollen Brasileiros geweckt. Sein eher unauffälliges Äußeres entspricht ein bißchen der ihm in der Familie zugedachten Rolle. Eines Tages platzt Val mit der Neuigkeit heraus, daß ihre Tochter Jéssica nach São Paulo komme, um an einer Aufnahmeprüfung für die Universität teilzunehmen. Jéssica ist natürlich herzlich willkommen und bekommt in Vals Kemenate Asyl. Vor zehn Jahren mußte Val, anders als Barbara, ihre Mutterrolle gezwungenermaßen an eine Verwandte abtreten. Um ihre Tochter und sich ernähren zu können, ging sie schweren Herzens vom Land nach São Paulo und zog liebevoll, aber stets von Gewissensbissen geplagt, den damals siebenjährigen Fabinho auf statt ihre eigene Tochter. Während dieser Zeit hatten Mutter und Tochter so gut wie keinen Kontakt und bei ihrem Wiedersehen stehen sie sich wie zwei Fremde gegenüber. Jéssica ist eine moderne, selbstbewußte, attraktive junge Frau und erweckt zu Barbaras Mißfallen die Lebensgeister und die Gunst des Senioren des Hauses. Von Vals besserer Besenkammer darf sie in das Gästezimmer mit eigenem Bad umziehen, diniert mit dem Hausherrn am selben Tisch und wird so zwangsläufig von ihrer Mutter mit bedient. Sie darf sogar das den Herrschaften vorbehaltene Erste-Klasse-Eis verspeisen. Val versteht die Welt nicht mehr und das ihr eigentlich Halt gebende Weltbild gerät ins Wanken. Mutter und Tochter beginnen, sich aneinander zu reiben und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Regisseurin Anna Muylaert versteht es, an vielen alltäglichen Kleinigkeiten das extreme Gefälle zwischen Arm und Reich in Brasilien aufzuzeigen. Sie tut dies feinfühlig und mit Witz, ohne daß Val dabei ihr Gesicht verliert. Anna wurde selbst von einem Kindermädchen betreut, das in einem sklavenähnlichen Verhältnis im elterlichen Haus lebte. Für die Betreuung ihrer eigenen Kinder beschäftigt sie eine Tagesmutter mit festen Arbeitszeiten. Der Himmel über dem Swimmingpool ist immer blitzeblau und das glasklare Wasser verlockt verführerisch, sich mit einem Sprung ins kühlende Naß der flimmernden Hitze zu entziehen. Aber Val verbietet ihrer Tochter schon den Gedanken daran, der Pool sei für sie ein absolutes Tabu. Das kümmert den Kronsohn wenig und er befördert Jéssica aus Jux und Dollerei in voller Montur in das Heiligtum. Barbara ist entsetzt und veranlaßt unter dem Vorwand, eine Ratte am Wasser gesehen zu haben, den Pool zu leeren. Jéssica hat verstanden und verläßt so schnell wie möglich die ungastliche Stätte, worauf Barbara ja schon seit längerem drängt. Weil Jéssica nicht nur hübsch, sondern auch intelligent ist, besteht sie im Gegensatz zu Fabinho die Aufnahmeprüfung sogar mit Bravour. Val kann sich gar nicht oft genug mit stolzgeschwellter Brust die Punktzahl auf der Zunge zergehen lassen, natürlich nur in Barbaras Gegenwart. Ob genau das ihr die Kraft gibt, sich aus dem Herrschaftsgefüge zu lösen, kann sie nur selbst beantworten. Jedenfalls sitzt sie plötzlich quietschvergnügt planschend in dem nur knietief gefüllten Tabu und telefoniert dabei lachend mit ihrer Tochter. Als nächstes trifft sie selbstbewußt einige Entscheidungen, damit sich ihr tragisches Schicksal nicht bei Jéssica wiederholt. Ich drücke den beiden beide Daumen!

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