Blog Blindgaengerin

Berlinale

Auf dem Berliner Gendarmenmarkt vor dem Deutschen Dom. Zwei Frauen stehen Rücken an Rücken und lachen in die Kamera. Links Verena im dunklen Etuikleid, rechts die Blindgängerin im braunen Lederkostüm. Beide halten Sektgläser.

Die abhandene Welt

Gerade noch rechtzeitig zum regulären Kinostart ist „Die abhandene Welt“ glücklicherweise in der Liste der App von Greta und Starks vorhanden. Dieses Glück war dem Film „Als wir träumten“ leider nicht vergönnt. Die beiden Filme liefen wie auch „Dora oder die sexuellen Neurosen…“ bereits im Februar als ein Berlinale Special mit einer live eingesprochenen Audiodeskription. An dieser Stelle möchte ich diesen Sprechern einmal meine Hochachtung kundtun. Während der 120 Filmminuten immer auf den Punkt genau den Text der Hörfilmbeschreibung in die Dialogpausen zu platzieren, ohne selbst auch nur für den Bruchteil einer Sekunde pausieren zu können, ist eine Riesenleistung! Die vorhandene Welt spielt in der Stadt Düsseldorf, in der Sophie, ihr Vater Paul und dessen Bruder bislang jeder mehr oder weniger für sich ihre eigenen Wege gehen. Eines Tages entdeckt Paul im Internet das Foto einer US-amerikanischen Operndiva, die seiner vor einem Jahr verstorbenen Frau zum Verwechseln ähnlich sieht. Die in Italien aufgewachsene Opernsängerin Caterina Fabiani ist nur unerheblich älter als seine Tochter Sophie und lebt mit ihrer Familie in New York. Von der Idee besessen, daß die Ähnlichkeit kein Zufall sein kann, wittert Paul die Möglichkeit einer in der Vergangenheit liegenden, wie auch immer gearteten, aber abhanden gekommenen familiären Verbindung. Gesundheitlich angeschlagen, kann Paul der Sache nicht selbst auf den Grund gehen, und so geht er seiner Tochter Sophie so lange auf die Nerven, bis diese sich mit einem von ihm gesponserten Flugticket auf die Suche nach der möglicherweise „abhandenen Welt“ auf der anderen Seite des großen Teiches macht. Sophie ist anfangs wenig begeistert, sich ein Detektivmützchen aufzusetzen und wildfremden Menschen auf die Pelle zu rücken, doch wird die Reise nach New York ihr Leben völlig umkrempeln. Kurz vor ihrer Abreise bekommt sie von ihrem Freund den Laufpaß und ihre Auftritte als Jazzsängerin sind auch nicht gerade von Erfolg gekrönt. Um an die wenig kooperative Operndiva Caterina (Barbara Sukowa) heranzukommen, wendet sie sich hilfesuchend an deren Manager, der die Situation schamlos ausnutzt und Sophie ein „unmoralisches Angebot“ macht. Aber nur so kommt sie nach und nach der abhandenen Welt auf die Spur, verliebt sich in ihren Zwangsverbündeten und wird auch noch als Jazzsängerin in der New Yorker Clubszene gefeiert. Alles flutscht, fast wie im Film. Katja Riemann singt als Sophie übrigens personifiziert und macht das echt gut! Welche Welt ab wann, wie und warum abhanden ist, klärt sich nur so nach und nach dank der handgeschriebenen Briefe, die die älteren Herrschaften, also Paul (Matthias Habich), sein Bruder und Caterinas vermeintliche Mutter (Karin Dor) in kleinen Holzkästchen aufbewahren. Diese Holzkästchen hatten etwas Rührendes. Von einigen Herrschaften im Kinosaal um mich herum konnte ich Bemerkungen darüber aufschnappen, was der heutigen und den nachfolgenden digitalisierten Generationen einmal abhanden sein und bleiben wird: Vor allem Holzkästchen mit handgeschriebenen Briefen! Paul hatte auf jeden Fall den richtigen Riecher. Seine Frau brachte einige Jahre vor Sophies Geburt bereits ein Mädchen namens Caterina zur Welt, das sie aus einer Notlage heraus ihrer in Italien lebenden Freundin anvertraute. Zurück in Düsseldorf, muß sich Sophie jetzt auf die Suche nach dem leiblichen Vater ihrer Halbschwester machen. Das alles klingt komplizierter, als es ist, und am Schluß weiß jeder, wer zu wem gehört. Bis zur endgültigen Familienzusammenführung und den tragischen Erkenntnissen über abhandene und irrtümlich für vorhanden gehaltene Welten tragen diverse Szenen zur allgemeinen Erheiterung bei: Als zweites Standbein versucht sich Sophie als Rednerin auf Hochzeitsfeiern. Viele Brautpaare tauschen den kirchlichen Traualtar gegen eine nicht so durchstrukturierte Zeremonie ein, um sich das große lebenslängliche JA-Wort zu geben. Sophies Gespräche mit den jungen Leuten über deren Erwartungen an den schönsten Tag ihres Lebens, den Partner und die Liebe und die gemeinsame Zukunft sind schon wahnwitzig komisch. Bei einer längst überfälligen Aussprache zwischen Paul und seinem Bruder bleibt es nicht bei Verbalattacken. Die älteren Herren tänzeln wie wildgewordene Boxer umeinander herum und die daneben sitzende Sophie versucht lachend, die im Weg stehenden Kleinmöbel zu retten. Eine ähnliche Situation gab es vor Jahren in meiner Familie anläßlich einer Feier, nur daß wir Familienmitglieder erst einmal ziemlich bedröppelt dreingeschaut haben, bis wir die beiden Kampfhähne getrennt haben. Aber in der letzten Szene sitzen alle bei einem guten Essen mit reichlich Rotwein einträchtig zusammen, Ende gut, alles gut! Im Februar bei der Vorstellung mit der live eingesprochenen Hörfilmbeschreibung waren neben den Hauptdarstellern und der Regisseurin auch bestimmt 50 Kinoblindgänger inklusive meinereiner. Der Regisseurin, Margarethe von Trotta, ist übrigens im wirklichen Leben ein ähnliches Schicksal widerfahren wie Sophie in ihrem Film. Schön, daß jetzt auch Leute den Film mit Greta anschauen können, die damals keine Zeit hatten, kein Ticket ergattern konnten oder einfach nicht das Glück haben, in Berlin zu leben, halt ALLE!! Das Foto zu diesem Beitrag zeigt mich mit meiner Schwester Verena. Wir beide sind uns aber nie abhanden gekommen. Es trennt uns auch kein Ozean, sondern meist nur die Elbe.

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Das Mädchen Hirut

Der von der UN-Botschafterin Angelina Jolie mit produzierte Film gewann letztes Jahr auf der Berlinale den Panorama-Publikumspreis. Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit in Äthiopien in den 90er Jahren. Äthiopien wurde so, wie es heute besteht, 1995 gegründet und ist eine parlamentarische Bundesrepublik mit einem Präsidenten. Das klingt erst einmal ziemlich modern und aufgeklärt, aber das Schicksal des Mädchens Hirut zeigt, daß die Mädchen bzw. Frauen verachtenden Traditionen gerade auf dem Land noch allgegenwärtig sind. Die 14-jährige Hirut lebt mit ihren Eltern und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester in der Nähe der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Ihre Eltern bewirtschaften dort einen kleinen Bauernhof. Obwohl auf dem Hof jede Arbeitskraft dringend benötigt wird, setzt sich ihr Vater, der selbst nicht lesen kann, gegen die Mutter durch und erfüllt Hirut ihren sehnlichsten Wunsch, eine Schule besuchen zu dürfen. Was sich für viele Schüler manchmal als lästige Selbstverständlichkeit darstellt, ist für Hirut ein absolutes Privileg, sie ist ja nur ein Mädchen vom Land. Sie lernt fleißig und hängt ihrem Lehrer an den Lippen. Als der ihr mitteilt, daß sie wegen ihrer guten Leistungen eine Klasse überspringen könne, macht sie sich beseelt auf den Weg nach Hause. Diesen Weg geht sie alleine zu Fuß durch eine wunderschöne, aber auch menschenleere Landschaft. Plötzlich kommen mehrere Reiter wie aus dem Nichts auf sie zu galoppiert, treiben sie in ihre Mitte und einer der jungen Männer zieht sie zu sich auf sein Pferd. Diese Bilder kennt man aus Filmen, wenn geflohene Sklaven eingefangen werden, nur daß hier alle dieselbe Hautfarbe haben. In eine dunkle Hütte eingesperrt, wird sie erst geschlagen und anschließend vergewaltigt. Stunden später kommt ihr Peiniger, ein junger Mann, zu ihr in die Hütte, bringt ihr Kaffee und versucht fast zärtlich, sie zu beruhigen. Es sei alles in Ordnung und er werde sie demnächst heiraten. Hirut kennt ihren Peiniger. Er lebt im selben Dorf und hat bereits vergebens bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten. Um doch noch an sein Ziel zu kommen, bedient er sich des althergebrachten und auf dem Land immer noch praktizierten Brauches, seine Erwählte einfach zu entführen. Hirut gelingt es, aus der Hütte zu entkommen und sich ein Gewehr zu greifen. Sie versucht zu fliehen. Als ihre Verfolger sie fast eingeholt haben, lädt sie professionell das Gewehr durch und warnt zuerst verbal und dann mit zwei Warnschüssen. Der dritte Schuß sitzt und ihr Peiniger liegt tot im Gras. Und wieder sitzt Hirut in einer dunklen Hütte, natürlich ohne vorherige ärztliche Versorgung, und zwar im dörflichen Polizeigewahrsam. Auf dem Dorfplatz wird ihr in ihrer Abwesenheit der Prozeß gemacht. Der Vater des Getöteten fordert die Todesstrafe. Hirut müsse dem Brauch entsprechend neben seinem Sohn beerdigt werden. Die meisten teilen diese Ansicht und daß Hirut aus Notwehr gehandelt haben könnte, kommt niemand in den Sinn. Die Anwältin Meaza arbeitet für eine Organisation, die Frauen und Kindern in Not kostenlos Rechtsbeistand leistet. Als sie von Hiruts Schicksal erfährt, macht sie sich sofort von Addis Abeba auf den Weg, um dem Mädchen zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren zu verhelfen. Sie verhandelt mit der dörflichen Polizei, um Hirut auf Kaution freizubekommen und ärztlich versorgen zu lassen. Dann ringt sie dem analphabetischen Vater die Unterschrift zur Vertretungsvollmacht ab. Schließlich muß sie Hiruts Alter beweisen und Zeugen für die Tat finden, um nur ein paar Schritte zu nennen. Immer wieder werden ihr von den Männern, ob bei Gericht oder bei der Polizei, Steine in den Weg gelegt. Aber sie schreckt nicht einmal davor zurück, den Justizminister zu verklagen. Sie sieht den Fall Hirut als Musterprozeß, der auf keinen Fall verloren werden darf. Ich glaube, daß der Film nicht nur mich mit einem unguten Gefühl entlassen hat. Auch wenn Hirut freigesprochen wird, weil sie aus Notwehr gehandelt hat, lauert da immer noch die rachesuchende Familie des Toten. Genau am Tag des Kinostarts wurden an einem Berliner Strafgericht der Vater und Onkel eines jungen Deutsch-Libanesen zu einer Geldstrafe verurteilt. Dieser hatte als 15-jähriger seiner Familie gegenüber seine homosexuelle Neigung offenbart. Darauf beschlossen Vater und Onkel, den Jungen ins Ausland zu entführen, um ihn dort in eine Ehe zu zwingen. Unglaublich!!! Im Gerichtssaal war der Autor und Filmemacher Rosa von Praunheim unter den Zuschauern. Mal sehen, vielleicht verfilmt er dieses Schicksal und ich kann irgendwann einen Artikel darüber schreiben.

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