Beim DOK 2024 in Leipzig
Ist alles nur eine Frage der Gewichtung! Zeit hatte ich eigentlich keine für einen Besuch des 67. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm vom 27.10. bis 03.11.2024 Aber die Verlockung, wieder die tolle Festival-Atmosphäre beim DOK Leipzig zu genießen, mit lieben Menschen nach Herzenslust Filme zu schauen und den Gesprächen der Filmteams nach den Vorstellungen zu lauschen, wog einfach viel schwerer als mein Zeitproblem. Jede Ausgabe des DOK wird von einem anderen Festivalmotiv geprägt. Das des vergangenen Jahres deutete ich laienhaft so:Die auf dem Plakat prangende Schere zur Hand nehmen und sich sein persönliches Filmprogramm zurechtschneiden. Dieses Jahr stehen auf pinkfarbenem Hintergrund zwei rote Gussgewichte leicht versetzt dicht voreinander, das hintere ist größer und etwa viermal so schwer wie das vordere. Die Gewichte in Zylinderform haben oben einen Knopf, um sie anheben zu können.Und jetzt übergebe ich die Deutungshoheit des Motivs an den Festivalleiter Christoph Terhechte:„Wie immer soll unser Festivalmotiv Anstoß geben, Verhältnisse zu hinterfragen – denn es gibt häufig unterschiedliche Perspektiven auf ein und denselben Aspekt.“Also Aspekte in Relation betrachten, abwägen und eventuell austarieren.Genau das habe ich gemacht und schon war ich da, mit leichtem Gepäck dieses Mal allerdings nur für eine Übernachtung. Am Donnerstag gegen 9:30 Uhr erwartete mich mein Begleiter Nino wie schon so oft in den vergangenen Jahren am Bahnhof und dann ein sehr eng getaktetes Programm. Aber bevor es ins Kino geht, die übliche Frage: Wie zugänglich und barrierefrei ist das Festival?Die Antwort fällt mir leicht: Das DOK Leipzig ist und bleibt ein Schwergewicht in beiden Aspekten!Und ich zitiere wieder einmal sehr gerne von der Website: „Unser Ziel ist, dass Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gemeinsam Filme schauen und diskutieren können. Deshalb arbeiten wir daran, dass alle Personen möglichst barrierefrei Zugang zum Festival haben.“Dazu gehört beispielsweise die Beschreibung von vielen Fotos und Filmstills auf der Website, Informationen über Aufzüge, Rampen, Rollstuhlplätze, Behindertentoiletten usw. zu allen Kinos und Spielstätten, der Hinweis zu dem einzigen Kinosaal mit Induktionsschleife, das Angebot eines Begleitdienstes mit der Diakonie Leipzig. Blinde, Sehbeeinträchtigte und Festivalbesucher im Rollstuhl konnten sich von zu Hause oder einer Haltestelle aus zum gewünschten Kino begleiten lassen. Das Angebot von Filmen mit barrierefreier Fassung stellte wie in den vergangenen zwei Jahren die erfahrene Hörfilmautorin Paula Schumann zusammen, das Budget fest im Blick und abgestimmt mit ihren Kolleginnen und Kollegen von der Programmabteilung. Für 19 Filme gab es direkt auf der Leinwand eingeblendete erweiterte Untertitel für Menschen mit Hörbehinderung. Bei vier dieser Vorstellungen wurden die Filmgespräche in Gebärdensprache übersetzt. Ich hatte die Wahl zwischen zehn Langfilmen, für die eine Audiodeskription bei der Greta App verfügbar war und warf aus Zeitgründen nur 3 in die Waagschale.Zu meiner großen Freude konnte ich mir auch die AD für den Festivaltrailer herunterladen.Der wurde zu Beginn jeder Vorstellung gezeigt. Es ist immer wieder faszinierend, was in 35 Sekunden visuell auf der Leinwand alles so passieren kann. In diesem Jahr spielten natürlich die roten Gewichte die Hauptrolle und eine weiße Taube, die Trophäe des DOK, hatte wie in jedem Trailer ihren Auftritt. Etwa in der Mitte des Trailers sitzen plötzlich mehrere rote Gewichte wie Menschen in den Sesseln eines Kinosaals.Mir gefällt die Vorstellung, dass jedes Gewicht ein schwerwiegendes Argument ist, Filme am besten im Kino zu schauen, oder warum eigentlich einmal nicht im Knast?Die ungewöhnlichste Spielstätte vom DOK ist die Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen.Seit einigen Jahren bewertet eine Gefangenen-Jury ausgewählte Filme und vergibt beim DOK im Knast den sogenannten „Gedanken-Aufschluss-Preis“.Den verliehen, ich sag’s mit einem Zwinkern, die „schweren Jungs“ in diesem Jahr „Im Prinzip Familie“, auch meinem absoluten Favoriten des Festivals! Mir ging, allerdings in einem ganz normalen Kinosaal, bei Daniel Abmas Dokumentarfilm das Herz auf. Hier einige zitierte Zeilen zum Film: Wenn Eltern ihrer Fürsorgepflicht nicht mehr nachkommen können, stürzt für die Kinder oft die ganze Welt zusammen. Plötzlich sind nicht mehr Mama oder Papa zuständig, sondern das Jugendhilfesystem.Daniel Abma hat eine Wohngruppe im ländlichen Raum über mehrere Jahre begleitet. Er beobachtet gleichermaßen zugewandt wie zurückhaltend professionelle Erziehende, die fünf Jungs zwischen sieben und vierzehn Tag für Tag geben wollen, was sie am Dringendsten brauchen: Geborgenheit, Orientierung, ein Zuhause. Vielleicht dachte der ein oder andere Inhaftierte beim Schauen des Films, sein Leben hätte eine andere Wendung genommen, wäre er genau in dieser Wohngruppe untergekommen.Die Vorführungen in der JSA sind auch für Publikum offen und ich wäre gerne einmal dabei, wenn der Knast zum Kinosaal wird. Und die Greta App funktioniert ja auch hinter schwedischen Gardinen. Mit der Stimme der Sprecherin der Audiodeskription konnte ich mich nicht so recht anfreunden und vor allem anfangs war ich mir manchmal nicht ganz sicher, welcher von den Jungs und Betreuern gerade miteinander agierten.Aber im Prinzip konnte ich dem teils turbulenten Geschehen doch ganz gut folgen. Daniel Abmas Film, der am 05. Juni 2025 mit barrierefreier Fassung über die Greta App in den Kinos startet, wurde dann auch noch mit dem „ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness“ und dem „film.land.sachsen-Preis für Filmkultur im ländlichen Raum“ ausgezeichnet. Ich war vorgewarnt, aber das Zünglein an der Waage, mir „Truth or Dare“ von Maja Classen anzuschauen, war meine Neugierde. Und einen Porno mit Audiodeskription gibt es ja auch nicht alle Tage. Die war unter den drei Hörfilmfassungen übrigens meine Nummer eins! Feinfühlig getextet und von der Sprecherin sensibel in die Dialogpausen platziert, vermittelte die AD die Begegnung von drei Paaren und einer Gruppe sexpositiver Personen.„Gemeinsam die Softness erforschen, schauen, wo die Körper hinführen, zulassen, dass sich Hautzellen und Nervenenden kennenlernen – und bei jedem Schritt nachfragen, wo die Grenzen liegen.“Gesprochen wurde mindestens genauso viel wie sich behutsam berührt und gegenseitig erforscht. Es eröffnete sich mir wie so oft bei Dokus eine ganz fremde Welt und ich hörte sehr gerne den Mitwirkenden beim Erzählen ihrer Geschichte zu.Nur bei der für mich nicht enden wollenden Gruppenperformance wurde mir teils genauer, als es mir lieb war, beschrieben, wer da gerade mit wem, was und wie…Und zum Schluss der zitierte Text zum Film: „Sexpositive Begegnungen, post-Lockdown. Eine Gruppe von Menschen erforscht ihre nonbinäre Lust, erfragt ihre Grenzen, keine erotische Zone ist selbstverständlich. Care & Curiosity, genau jetzt.“
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