Grüße aus Fukushima
Dirndl trifft auf Kimono! Die deutsch-japanischen Beziehungen sind traditionell freundschaftlich und reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Ein Beleg dafür ist der im Januar 1861 zwischen Preußen und Japan geschlossene Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag. Zwei Jahre vor dem 150-jährigen Jubiläum der erstmals offiziell manifestierten Freundschaft vereinbarten beide Staaten, dieses im Jahr 2011 feierlich zu begehen. Allerdings wurde der Freude am Feiern am 11. März ein jähes Ende gesetzt. An diesem Tag waren aller schlechten Dinge drei: Ein Seebeben, ein Tsunami und die Kernschmelze in drei der sechs Reaktorblöcke des Kernkraftwerkes Fukushima! Auch fünf Jahre nach dem Super-GAU leben vor allem ältere Menschen in der Präfektur Fukushima immer noch in Notunterkünften. Sie sind Flüchtlinge in ihrer Heimat und eine Rückkehr in ihre zerstörten und radioaktiv verseuchten Dörfer und Häuser scheint eher unwahrscheinlich. Ähnlich wie alte Bäume möchten Menschen ab einem gewissen Alter nicht mehr so gerne entwurzelt und umgesiedelt werden. So harren die Senioren notgedrungen in den eigentlich nur provisorisch errichteten Containerdörfern aus und leben mehr oder weniger freudlos in den Tag hinein. Das ist die traurige Realität im Jahr 2016 und die schwarzweiße Filmkulisse von „Grüße aus Fukushima“. Dorthin macht sich Marie, Ende zwanzig, von Deutschland aus auf den Weg. Sie hat sich der Organisation Clowns4Help angeschlossen und möchte mit ihrem Clownskostüm im Gepäck den Containerbewohnern ein Lächeln in die Gesichter zaubern. Aber während die Alten ihrem Clownskollegen Moshe, wunderbar gespielt von dem echten Clown Moshe Cohen, fasziniert folgen und begeistert applaudieren, erntet Marie nur verständnislose Blicke. Auch ihr Versuch, die Senioren zum Schwingen der Hüften mit Hula-Hoop-Reifen zu animieren, scheitert kläglich. Wütend, vor allem über sich selbst, ist Marie drauf und dran, ihre Mission abzubrechen, die da lautet: Ich will anderen Menschen helfen, denen es im Vergleich zu mir wirklich schlecht geht, um mein eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aber sie bleibt, legt ihr zwanghaftes und nicht ganz uneigennütziges Helfersyndrom ab und rettet schließlich doch ein Leben und eine Seele. Radioaktivität kann man nicht fühlen, riechen, sehen oder hören, sondern nur messen. Bei ihrer Ankunft läßt das bedrohliche Rattern des Geigerzählers leichte Panik bei Marie aufsteigen. Man versucht, sie damit zu beruhigen, daß die Sperrzone mittlerweile freigegeben sei, also keine Gefahr mehr für Leib und Leben bestünde. Radioaktivität hin oder her, die alte Dame Satomi möchte um jeden Preis der Tristesse des Containerdorfes entfliehen und zurück zu ihren Wurzeln, dem zerstörtem Haus in der Sperrzone. Vielmehr als die Strahlenbelastung fürchtet sie die Erinnerungen an die Bilder der Katastrophe, die sie immer wieder heimsuchen. Besonders nachts quälen Satomi Schuldgefühle, weil sie auf Kosten des Lebens eines geliebten Menschen den Tsunami überlebte. Für solche Fälle hält die japanische Mythologie die viele Jahrhunderte alte Tradition der Yurei bereit. Diese den europäischen Gespenstern ähnlichen Totengeister sind die in der Welt der Lebenden gefangenen Seelen der Toten. Marie besiegt ihre Ängste vor der Radioaktivität und quartiert sich in Satomis Haus ein, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Jetzt läßt die Regisseurin Doris Dörrie den Frauen viel Zeit, sich kennen zu lernen und voneinander zu lernen. Das geschieht, abgesehen von einigen wenigen Gefühlsausbrüchen, ohne große Worte und mit vielen Gesten, sehr sensibel und glaubhaft gespielt von Rosalie Thomass und der japanischen Schauspielerin Kaori Momoi. Die vielen Dialogpausen wurden für eine Bildbeschreibung mit viel Liebe zum Detail genutzt. So kam auch ich einmal in den Genuß, den üblicherweise wortlosen Vorführungen der Tricks eines Clowns genauestens folgen zu können. Aber auch die Beschreibung der immer wieder eingeblendeten Bilder von dem Tsunami und den verheerenden Zerstörungen blieben mir nicht erspart. Immer noch erinnere ich mich gerne an die warme und ruhige Stimme der Sprecherin, ähnlich der von Senta Berger, über die App Greta in meinem Ohr. Allmählich findet Satomi, die letzte Geisha von Fukushima, wieder ins Leben zurück und schlüpft aus ihrer Jogginghose in ihren Kimono. „Kiru“ heißt anziehen, „mono“ das Ding und fertig ist das japanische Kleidungsstück Kimono, das einem Kaftan ähnelt. Zusammengehalten wird das Ganze mit einem Gürtel, dem Obi. Satomi versucht nun, der etwas ungelenken und für die japanischen Möbel zu großen Marie die Kultur des Teetrinkens im Fersensitz nahezubringen. Marie entledigt sich ihrer Jeans und streift sich ihr Dirndl über. In den oberdeutschen Dialekten bedeutet Dirndl junges Mädchen, was aber nicht bedeutet, daß in dem typisch bayerischen engtaillierten Trachtenkleid mit Schürze nur junge Mädchen stecken. Was der jungen Frau in ihrem Clownskostüm mißlang, glückt ihr in ihrem Dirndl. Als sie beschwingt von Sake zur Musik von Velvet Underground aus dem Autoradio so eine Art Schuhplattler hinlegt, schüttet sich Satomi aus vor Lachen. Die elegante Geisha Satomi lacht oder schimpft immer mit ihrer knarzenden Originalstimme mal auf japanisch und meistens auf englisch. Die Devise „Man spricht deutsch“ ist die Ausnahme in dem Film. Nur wenn es Marie allzu bunt wird, greift sie auf ihre Muttersprache zurück. Neben der Hauptsprecherin lasen deshalb zusätzlich fünf oder sechs weitere Personen die deutschen Untertitel der jeweiligen Filmfiguren mit viel Emotion in ihren Stimmen vor, ähnlich wie Synchronsprecher. Das war mir zeitweise fast schon ein bißchen zu viel, hat aber einen Grund. Bei der Aufbereitung der Hörfilmfassung für DVD und Fernsehen wird die Lautstärke der Originalstimmen stark heruntergeregelt, es sind dann, anders als im Kinosaal, die Stimmen der deutschen Sprecher im Vordergrund. Warum das so ist, habe ich vergessen zu fragen. Mich hat es jedenfalls sehr gefreut, im Kino die Originalstimmen von Marie, Satomi, dem alten Mönch und all den anderen, meist von japanischen Laiendarstellern gespielten Figuren, hören zu dürfen. Durch sie schickt uns Doris Dörrie auf ihre ganz persönliche Art Grüße aus Fukushima!
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