Blog Blindgaengerin

Filmmusik

Die Blindgängerin mit Helm und Rucksack hockt auf einer Wiese am Boden. Sie hält Seile mit Karabinerhaken in den Händen. Die große weiße Plane hinter ihr soll einen entfalteten Fallschirm nach der Landung darstellen. Auf ihrem dunkelblauen T-Shirt steht in weißer Schrift “Mission Possible“.

Mission: Impossible – Fallout

„Alles Gute kommt von oben.“ Diese Redensart biblischen Alters hat ihren Ursprung im Brief des Jakobus, dort heißt es: „Alle gute Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts.“ Wie auch immer, seitdem sich der Mensch mit todbringenden Waffen im Gepäck in die Lüfte aufschwingen kann, kommt viel zu viel Schlechtes von oben. Und im Nuklearzeitalter muß er nicht einmal das. Alles, was nach oben entweicht, wird zwar zunächst vom Winde verweht, kommt aber unweigerlich irgendwann irgendwo wieder auf die Erde zurück. Er ist nicht zu hören, zu sehen, zu fühlen oder zu riechen, der radioaktive Niederschlag bzw. Fallout, ausgelöst von einer atomaren Explosion am Boden! Um die Welt vor solch einer Katastrophe zu retten, wird das Team von Ethan Hunt (Tom Cruise) losgeschickt zur sechsten „Mission: Impossible – Fallout“ Ich schickte mich auch, nämlich an, wieder einmal allein ins Kino zu gehen. Dabei entschied mich für den Zoopalast Berlin. Wie bei all meinen Alleingängen in den Kinos begleitete mich auch hier das aufmerksame nette Kinopersonal bis zu meinem Platz und versorgte mich mit Getränken usw. Die jungen Leute waren sehr interessiert, wie ich von dem Film überhaupt etwas mitbekommen könnte. Eine Audiodeskription für den US-amerikanischen Actionthriller gäbe es zwar nicht, meinte ich etwas enttäuscht. Aber ich hatte mir extra mein Shirt mit dem Aufdruck „Mission Possible“ übergestreift und war gespannt, was geht! Ein besonderes Highlight würde für mich die Filmmusik sein, bei der ich jedesmal eine Gänsehaut bekomme, und natürlich der Sound im größten Saal des Zoopalasts. Der war wieder einmal grandios, kam von oben und einfach von überall und konnte mich über die ein oder andere gefühlte dialogfreie Ewigkeit hinwegtrösten. Aber ich hätte doch zu gerne etwas über Ethan Hunts Körperhaltung und Mimik erfahren, als er im freien Fall von sehr weit oben kam. Zumal sich Tom Cruise dabei, wie bei allen anderen waghalsigen Szenen auch, nicht doubeln ließ. Abgesehen von dem Detail, daß sich sein Fallschirm extrem niedrig über den Dächern von Paris öffnete, schwebte ich nur im Dunkeln so mit. Etwas später raste ich wohl immer haarscharf an höllischen Abgründen vorbei. Ich glaube es war Benji (Simon Pegg) aus Ethan Hunts Team, der sich laut fragte: „Zur Hölle, was macht er da?“ Diese Frage blieb für mich wie viele weitere offen! Zu hören waren das Aufheulen von PS-starken Motoren, berstendes Metall, das Splittern von Glas, quietschende Bremsen, Rufe, Schreie und Schießereien. Mindestens einmal stürzte etwas in ein Gewässer. Im nachhinein mußte das die Seine gewesen sein. Man war also immer noch oder schon wieder in Frankreich. Zum Beschreiben wäre bei diesen beiden actionlastigen Beispielen viel Zeit gewesen. Und allen, die wie auch ich mit Hörfilmbeschreibungen zu tun haben, hätte es in den Fingern gejuckt! Mein Rettungsanker war dann die Filmmusik. In meinem Sessel versunken lauschte ich dem unsichtbaren Orchester und war überrascht, als nach über zwei Stunden plötzlich Schluß war. Dabei zog sich das Thema der Filmmusik wie ein roter Faden durch das Spiel der fantastischen Musiker. Die tiefen Klänge der Celli verbreiteten Dramatik und kündigten Gefahr an. Die gipfelte dann im schnellen nervenzerreißenden Gefiedel der Violinen. Die Bläser und Hörner bliesen zum Angriff und die fantastischen Percussion-Einlagen brachten noch einmal mehr Geschwindigkeit in die Sache. So dachte ich mir das wenigstens! Zusammengefaßt hatte ich eher einen schönen Konzert- als Kinoabend. Meine Mission, möglichst viel vom Film mitzubekommen, war tendenziell eine unmögliche. Aber den Blick statt nach oben nach vorne gerichtet, glaube ich an eine siebte “Mission: Impossible” mit Audiodeskription und erweiterten Untertiteln über die Greta und Starks App! Denn nichts ist unmöglich!

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Django Reinhardt mit der Gitarre auf der Bühne. Weißer Anzug, weinrotes Hemd mit Krawatte. Die dunklen Haare streng zurückgekämmt, dazu ein kleiner Schnurrbart. Django schaut beim Spielen auf seine linke Hand, die Greifhand.

Django – ein Leben für die Musik

Ein- beziehungsweise beidhändig agieren sie alle drei blitzschnell und mit flinken Fingern präzise auf den Punkt: Ihr Name ist Django! Zwei sind Revolverhelden und beweisen ihre todbringende Fingerfertigkeit nur als rein fiktive Filmfiguren. Der Erste bereits vor 51 Jahren in dem Italowestern „Django“ und Nummer zwei in dem US-amerikanischen Spielfilm „Django Unchained“ von 2012. Über den Dritten im Bunde startete jetzt am 26. Oktober ein Kinofilm aus Frankreich! „Django – Ein Leben für die Musik“ Das Team der Kinoblindgänger gemeinnützige GmbH war von dem Filmportrait des legendären, natürlich nicht fiktiven Jazzgitarristen Django Reinhardt genauso fasziniert wie das des Berlinale Festivals. Deshalb gibt es für den diesjährigen Berlinale-Eröffnungsfilm jetzt zum regulären Kinostart eine Marie! Sie macht mit der Audiodeskription und den erweiterten Untertiteln, produziert und finanziert von der Kinoblindgänger gGmbH, diesen großartigen Film für alle barrierefrei erlebbar. Dazu gehört wie immer auch die Bereitstellung der Marie (barrierefreie Fassung) auf der App Greta und Starks. Das übernahm für „Django“ der Verleih. Dafür ein herzliches Dankeschön an den „Weltkino Filmverleih“! Django Reinhardt wurde als Sohn französischsprachiger Sinti 1910 in Belgien geboren. Nach einigen Jahren mit seinen Eltern in Nizza, Italien, Korsika und Nordafrika wuchs er ab 1918 in einer Wohnwagensiedlung am Stadtrand von Paris auf. Schon als 12-jähriger begann er seine professionelle Musikerkarriere. Der französische Regisseur Étienne Comar konzentriert sich in seinem Spielfilm auf Djangos Leben ab 1943 und endet mit einer sehr berührenden Szene kurz nach Kriegsende im Mai 1945. Der virtuose Gitarrist gilt als Begründer und Vorreiter des europäischen Jazz und schuf mit dem Gypsy-Swing einen neuen Musikstil. Dieser Rhythmus, daß jeder mit muß! (singt Udo Lindenberg) Und dieser Hörschnipsel mit Audiodeskription ist der beste Beweis! Hörschnipsel 1: Hoppla, beinahe wäre die Marie der Kinoblindgänger gGmbH vor Begeisterung von ihrem Filmstreifen gepurzelt! Diese Kostprobe stammt von einem Konzert des berühmten Quintette du Hot Club de France im einem Pariser Theatersaal im Sommer 1943. Django spielt die Solo-, sein Bruder Joseph die Begleitgitarre. Djangos Welt, in der nur Platz für Musik ist, scheint bis dahin in Ordnung zu sein. Sogar im Konzertsaal anwesende uniformierte Nazis können sich dem Bann der doch als „Negermusik“ verpönten Rhythmen nicht ganz entziehen. Aber schon am selben Tag ziehen dunkle Wolken am Horizont auf. Reichspropagandaminister Goebbels zitiert Django mit seinen Mitspielern ins Deutsche Reich, für eine Tournee zur Erheiterung der deutschen Soldaten. Zunächst hindert ihn nur seine gekränkte Musikerehre, der Order Folge zu leisten. Denn die absurden Auflagen der Nazis, was er wie zu spielen und vor allem nicht zu spielen habe, lassen von seiner Musik nicht mehr viel übrig. Aber schließlich erkennt auch er den Ernst der Lage. Er flieht mit seiner schwangeren Frau und seiner Mutter in die Nähe der Schweizer Grenze, wo sich bereits einige Familien seines Clans mit ihren Wagen versammelt haben. Dort wird die Situation für alle Beteiligten mit jedem Tag bedrohlicher. Der folgende Hörschnipsel gehört zu meinen Lieblingsstellen des Films. Er „zeigt“ Djangos obercoole Maman, dargestellt von Bimbam Merstein, in ihrem Element. Hörschnipsel 2: In dem Hörschnipsel ist neben den Filmfiguren nicht nur Nadja Schulz-Berlinghoff, die Sprecherin der Audiodeskription, zu hören. Denn die auf Romanes geführten Dialoge, die als Untertitel eingeblendet sind, werden von Susanne Hauf, Andreas Sparberg und Pascal Cürsgen gesprochen. Den Text der Hörfilmbeschreibung erarbeitete das sehr gut eingespielte Trio, das aus Inga Henkel, Lena Hoffmann und mir besteht. Besonders aufmerksam schauten wir Reda Kateb, dem Darsteller des Django, beim Gitarre spielen auf die Finger seiner linken Hand. Der wahre Django konnte nach einem Brandunfall nur noch mit zwei statt mit vier Fingern die Saiten greifen. Kleiner Finger und Ringfinger waren verkrümmt und versteift, ihm blieben nur Zeige- und Mittelfinger. Bei Akkorden behalf er sich zum Greifen der tiefen E-Saite mit dem Daumen, der auf dem Griffbrett eigentlich nichts zu suchen hat. Vor diesem Hintergrund sind die Tempi, mit denen Django seine Läufe spielte, um so phänomenaler! Bei Reda Kateb, der vor den Dreharbeiten ein Jahr lang diese Art des Gitarrenspiels einübte, konnten wir diese ganz spezielle Technik beobachten und haben das auch genau beschrieben. Optisch wirkt das sehr glaubwürdig. Für den akustischen Genuß sorgte tatsächlich aber der niederländische Gitarrist Stochelo Rosenberg, der die Stücke seines Idols Django für den Film neu einspielte. Ein Leben ohne Musik ist für mich undenkbar und deshalb ist ganz klar, welcher der drei Djangos mir der liebste ist!

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Auf einem Brett liegen in einer Reihe fünf kleine Gebäcke, in Berlin Pfannkuchen, außerhalb Berlins Berliner genannt. Alle tragen Perücken und haben Gesichter aus aufgeklebten Augen und roten Mündern. Die vier äußeren tragen auch Ohrstecker, die Mundwinkel zeigen nach oben. Der Berliner in der Mitte ist etwas zerdrückt mit langem strähnigem Haar, die Mundwinkel zeigen nach unten. Dahinter ein zerknülltes Blatt Papier mit dem Wort Mängelexemplar. Ein schwarzer Pfeil zeigt auf den Berliner in der Mitte.

Mängelexemplar

Das Buch ist ein kostbares Kulturgut und hat irgendwie auch eine Seele! Es möchte, genauso wie alle Dinge und Lebewesen, daß mit ihm respektvoll, sorgfältig und fachgerecht umgegangen wird. Leider ist es aber auch vor Schicksalsschlägen nicht gefeit. Fehler, die beim Drucken oder Binden auftreten, degradieren das Buch zum Defektexemplar. Die nächste Gefahr lauert beim Transport und der Lagerung. Zieht es sich dabei gut sichtbare und nicht zu korrigierende Beschädigungen zu, wird es als Mängelexemplar abgestempelt und unterliegt nicht mehr der Buchpreisbindung. Mit einer gewollt verknittert aussehenden Titelseite veröffentlichte die Autorin Sarah Kuttner aus Berlin 2009 ihren Roman „Mängelexemplar“. Ob sich der Buchdeckel auch so anfühlt, wie er aussieht, kann ich mangels eines Exemplars nicht beurteilen. Ganz genau wissen wird das die Berliner Regisseurin und Drehbuchautorin Laura Lackmann. Beim Lesen des Bestsellers hatte sie sofort einen Film vor Augen und im Jahr 2014 nahm ihr Kopfkino bei den Dreharbeiten Gestalt an. Wer das Mängelexemplar, die 27-jährige Berlinerin Karo, verkörpern sollte, kam ihr jedoch nicht sofort in den Sinn. Die Wahl fiel beim Casting dann recht schnell auf die gebürtige Berliner Schauspielerin Claudia Eisinger. Wie gut diese an sich und ganz besonders am gigantischen Lehrstoff eines Jurastudiums verzweifeln kann, bewies sie bereits als Studentin Katharina in „Wir sind die Neuen“. Im krassen Gegensatz zu dem verknitterten Buchdeckel kann man bei Karos äußerer Erscheinung absolut nichts Mängelexemplarisches feststellen. Dennoch wird die sehr attraktive junge Frau von ihrer Chefin kurz und schmerzlos wie ein ramponiertes Buch ausgemustert. Sie sei viel zu unbeherrscht und emotional. Und so, wie sich Karo dann in einem Baumarkt aufführt, ihren Freund überfordert und ihre beste Freundin Anna vor den Kopf stößt, scheint da was dran zu sein. Die Einzige, die ihr gar nichts übel nimmt, und zu der sie sich jederzeit Trost suchend flüchten kann, ist ihre Oma Bille. Den Part der Oma übernimmt Barbara Schöne aus Berlin mit ihrer wundervoll warmherzigen und tiefen Stimme. Und dann ist da noch Laura Tonke, natürlich auch aus Berlin. Hier steckt sie nicht als Hedi Schneider in einem Fahrstuhl fest, sondern heißt Anna, besitzt eine Kneipe in Kreuzberg und ist eigentlich Karos beste Freundin. Wenn sich fünf Frauen als geballte Berlinerinnen-Kompetenz daran machen, eine mal tragische, meist aber komische Berliner Geschichte auf die Leinwand zu bringen, kann ja eigentlich nüscht mehr schiefjehn und das isses auch nicht! Dazu maßgeblich beigetragen haben aber auch zwei Wahlberlinerinnen. Zum einen versucht Katja Riemann als Karos Mutter – und eigentlich selbst ein Mängelexemplar – mehr schlecht als recht, ihrer Tochter aus einer tiefen psychischen Krise herauszuhelfen. Professioneller geht es da schon in der Praxis von Maren Kroymann als Psychotherapeutin Annette zu. Mit stoischer Ruhe und minimalistischen Gesten läßt sie Karo ihr Leben Seite für Seite wie in einem Buch Revue passieren und daraus erzählen. Darin kommen natürlich auch Männer vor, Christoph Letkowski als Karos Freund, Detlev Buck ist ihr Vater und Maximilian Meyer-Bretschneider mal Kumpel und mal mehr. Das männliche Geschlecht kommt zwar nicht allzu oft zu Wort, ist aber dennoch unverzichtbar, wie im Leben eben. Unverzichtbar für den vollen Filmgenuß ist wie immer eine Audiodeskription. Die gibt es auch und ich bekam sie über die App Greta im Kino auf die Ohren. Dieser frauendominante Film schreit geradezu nach einer Sprecherin für die Hörfilmbeschreibung und das war auch der Fall. Was ich von der angenehm ruhigen und unaufgeregten Stimme zu hören bekam, war mir sehr vertraut, weil ich bei der Erstellung der Audiodeskription redaktionell mitwirken konnte. Genau gesagt, las mir der Autor den Text seines Manuskriptes zwischen die Dialoge. Wenn mir etwas unklar war, haben wir gemeinsam nach einer neuen Formulierung gesucht. Die Regisseurin mußte sich einiges einfallen lassen, um Karos diffuse Gedanken und Gemütsschwankungen, wie sie im Buch beschrieben sind, in Bild und Ton darzustellen. Das ist ihr auf beeindruckende Weise geglückt, auch mit Unterstützung durch die jeweils genau passende Filmmusik. Die vielen Bilder mußten dann für die Audiodeskription wieder in Worte gefaßt und in die kurzen Dialogpausen platziert werden. Und ganz subjektiv gesprochen, ich finde, das haben vor allem der Autor, ein Urberliner, und ein bißchen auch ich, jahrzehntelange Wahlberlinerin, ganz gut hinbekommen. Mein Honorar für diese Tätigkeit kommt übrigens zu 100 % der Kinoblindgänger gemeinnützige GmbH zugute!

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“Hello, I am David!” – Eine Reise mit David Helfgott

Gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen den Positionen und Bewegungen von Sternen und Planeten und irdischen Ereignissen wie insbesondere dem Leben der Menschen? Die Astrologen sagen ja! Der Tag, an dem sich zwei Menschen treffen, die füreinander bestimmt sind, ist für diese auf jeden Fall in erster Linie ein unermeßlicher Glückstag. Solch ein Glückstag muß es gewesen sein, als sich der Pianist David Helfgott und die Astrologin Gillian Murray im Haus eines gemeinsamen Freundes im Jahr 1984 zum ersten Mal begegneten. Bis heute sind sie ein außergewöhnliches und außergewöhnlich glückliches Paar. Im selben Jahr lief übrigens auch ich meiner großen Liebe über den Weg, allerdings nicht in Australien, sondern in Berlin. Ich glaube zwar nicht so recht daran, aber wer weiß, vielleicht hatten die Gestirne jedenfalls im Jahr 1984 doch ihre Finger mit im Spiel! David ergriff an diesem Glückstag zunächst die Initiative und dann Gillians Hand, die er nie wieder loslassen wollte. In dem Film „Hello, I am David“ kann man sich davon überzeugen, welch glückliches und damals übrigens klatschnasses Händchen er bei dieser Entscheidung hatte, als er sich direkt aus dem Swimmingpool zu Gillian gesellte. Aber eigentlich geht es ja um seine beiden Hände, wie sie in atemberaubender Geschwindigkeit über die Pianotasten fliegen. Der Ausnahmemusiker war mir bislang kein Begriff und ich habe mich von seinem Spiel einfach mitreißen lassen. Für seine Spielkunst hat David einen hohen Preis gezahlt, nämlich jahrelange harte und entbehrungsreiche Arbeit. In dem Film „Shine – Der Weg ins Licht“ von 1996 kann man sich ein Bild davon machen, wie hoch dieser Preis war, beispielsweise seine verlorene Kindheit und Jugend als „Wunderkind“. Der Regisseur Scott Hicks war vom Leben des Pianisten inspiriert und arbeitete bei seinem Oscar-prämierten Film mit verschiedenaltrigen Darstellern Davids. Ärgerlicherweise ist dieser Film, in dem auch noch Armin Müller-Stahl mitspielte, bis jetzt an mir vorbeigerauscht. Ansonsten wüßte ich bestimmt mehr über die Umstände und Folgen seines Nervenzusammenbruchs kurz nachdem er 1970 seinen ersten großen Triumph feierte. Als 23-jähriger spielte er in der Londoner Royal Albert Hall das 3. Klavierkonzert von Rachmaninow. Seine gerade begonnene musikalische Karriere hatte mit der kurz danach diagnostizierten schizoaffektiven Störung, einer schrecklichen Allianz von Wahn, Halluzinationen, Depressionen und Manie, ein jähes Ende. Über zehn Jahre mußte er sich bis 1981 in Nervenkliniken in psychiatrische Behandlung begeben. Aber er hat es geschafft, wieder ins Leben zurückzufinden. Geholfen haben ihm dabei bestimmt seine Liebe zur Musik, dem Klavier und vor allem seine Frau Gillian. Seine wiedergewonnene Lebensfreude teilt er seitdem mit jedem, der in seine Nähe kommt, mit dem Spruch „Hello, I am David“. Dann erkundigt er sich nach dem Namen und Befinden des anderen und meistens kommt es noch zu begeisterten Umarmungen. Geschafft hat er es bewundernswerterweise auch wieder als Solopianist auf die Bühnen der großen Konzerthäuser, immer in ein rotes Seidengewand gehüllt. Und ein zweites Mal inspirierte er nun mit seinem Spiel gleich zwei Menschen, sich mit ihm zu beschäftigen. Der Orchesterleiter der Stuttgarter Symphoniker, Walter Schirnik, engagierte David für eine Konzerttournee und konnte Cosima Lange dafür gewinnen, diese Reise dokumentarisch zu begleiten. Auch Cosima Lange beweist ein glückliches Händchen, wie sie auf David zugeht und versucht, in seine Gedankenwelt einzutauchen. Dazu taucht sie vor allem gemeinsam mit ihm in die Fluten diverser Swimmingpools. Nach dem Klavierspielen ist Wasser seine zweite Passion. Überlebenswichtig scheinen für ihn auch Tee, Kaffee, Coca Cola und Pizza aus Kartons zu sein. Nicht nur immer ein ruhiges Händchen, sondern mehrere Male auch flinke Füße mußte die Kamerafrau beweisen. Am Klavier ist David ruhig, souverän und hoch konzentriert. Im Alltag und wenn er nicht gerade in einem Pool krault, macht er einen etwas fahrigen und unruhigen Eindruck. Man muß jederzeit darauf gefaßt sein, daß er losflitzt, jemandem die Teebeutel stibitzt oder sonst irgendetwas anstellt. Dank der Hörfilmbeschreibung konnte ich mir ein ganz gutes Bild von David und Gillian und ihrem sehr abwechslungsreichen Alltag machen. Zum Glück wurden auch die Untertitel vorgelesen, sonst hätte ich von Davids englischem Gemurmel kaum etwas verstanden. Gut gefiel mir, daß sowohl Sprecher als auch Sprecherinnen im Einsatz waren, je nachdem, wer gerade untertitelt wurde. Während der Konzerte machten die Beschreiber eine Pause, um den Musikgenuß nicht zu beeinträchtigen. Es gibt aber auch kritische Stimmen, die sich vor allem an Davids Gemurmel während des Konzertes stören. Mich hat das überhaupt nicht irritiert. Mit seiner Spielfreude steckt er den Dirigenten Matthias Foremny, die Orchestermusiker und vor allem das Publikum an. Das Zusammenspiel zwischen dem Solisten und dem Orchester ist perfekt und auch bei noch so konzentriertem Lauschen konnte ich keinen einzigen mißlungenen Ton heraushören. Notenblätter sucht man am Notenhalter seines Flügels übrigens vergebens. Mit seiner freudigen Daumen-hoch-Geste zum Schluß und den anschließenden Umarmungen der Musiker und auch einzelner Konzertbesucher lockert er die üblicherweise steife Atmosphäre in den Konzerthäusern etwas auf, es darf eben auch einmal gelacht werden! David Helfgott ist jetzt 68 Jahre alt. Ich wünsche ihm und seiner 15 Jahre älteren großen Liebe Gillian, daß sie noch viel Zeit miteinander verbringen können!

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In der Hocke steckt die Blindgängerin mit dem Kopf in der Waschmaschine. Sie streckt eine Hand mit einer einzelnen Socke hinter den Rücken. Auf der Waschmaschine ein großer Nemo-Fisch und eine aufgeschlagene Bibel, auf einem Regal daneben ein helles kleines Pferd mit einem Affen auf dem Rücken.

Das brandneue Testament

Herbert Grönemeyer plädiert in seinem Hit „Kinder an die Macht“ dafür, den Kindern das Kommando zu übergeben, weil sie unter anderem nicht berechnen, was sie tun. Weiter im Text heißt es, daß die Kinderwelt ohne die Begriffe „gut und böse“ und „schwarz und weiß“ auskommt. Wenn er sich da mal nicht täuscht! Ich habe zwar keine Kinder, war aber immerhin mal selbst eins. Ganz bestimmt irrt er sich bei den beiden neun- und zehnjährigen Mädchen, die ich jetzt ins Spiel bringe. Die zwei sind sehr wohl in der Lage, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und berechnen ganz genau, was sie tun. Sie warten nicht, bis ihnen die Erwachsenen das Kommando übergeben, sondern nehmen das Zepter gleich selbst in die Hand. Die jüngere der beiden zaubert schon seit 70 Jahren zunächst den Lesern und später auch den Kino- und Fernsehzuschauern jung wie alt ein Lachen ins Gesicht. Die sommersprossige, rotbezopfte, bärenstarke und freche Göre aus Schweden namens Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminze Efraimstochter Langstrumpf macht sich die Welt, widdewidde wie sie ihr gefällt. Pippi war mein erstes und einziges Idol! Die zehnjährige Ea (Pili Groyne) gab ihr Debut bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes als eine der wichtigsten Mitwirkenden des „Brandneuen Testaments“. Anders als Pippi muß sie sich mit nur einem Namen, bestehend aus gerade zwei Buchstaben, begnügen und macht die Welt zwar nicht, wie sie ihr gefällt, stellt sie aber auf den Kopf und hebt sie fast aus den Angeln. Das gelingt ihr dank der Macht ihres allmächtigen Vaters. Es ist Gott persönlich, der unter den Menschen verweilt und mit seiner Familie in Brüssel wohnt. Im ersten der zehn Gebote heißt es: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.“ Diesem Gebot zum Trotz blickte Gott in meiner kindlichen Fantasie mit seinem überirdisch großen wie aus einem Stein gemeißelten Gesicht streng zwischen den Wolken auf die Erde herab. Auch der Regisseur und Drehbuchautor (Jaco Van Dormael) pfeift auf das Gebot und verpaßt dem Herrn ein herrlich verloddertes Aussehen. Der Heilige Vater schafft es nicht einmal in die berüchtigte Jogginghose. Im Bademantel mit Latschen und immer einer Bierpulle am Hals schlurft er zwischen dem Eßtisch, dem Fernseher und seiner Machtzentrale, einem hermetisch abgeschlossenen Kabuff, hin und her. Seinem verkommenen Äußeren entspricht seine niederträchtige Gesinnung allem und jedem gegenüber. Er sitzt am Rechner, erschafft die Welt inklusive Brüssel so widdewidde wie sie ihm gefällt und traktiert zu seiner Belustigung Menschen und Tiere mit Katastrophen und unzähligen fiesen Geboten. Auch vor der Flora macht er nicht halt und dennoch macht es höllischen Spaß, ihm bei seinem Machtmißbrauch zuzuschauen. In den Schaffenspausen demütigt er seine Gattin, Frau Gott, oder versemmelt seine Tochter. Beide wünschen sich die Rückkehr des vor 2015 Jahren gekreuzigten Sohnes und Bruders, der die schäbige Behausung nur als Figur ziert. Das schwedische Mädchen in seinen riesigen Schuhen und Ringelstrümpfen liebt ihren irdischen Vater abgöttisch und hätte an Eas Stelle mit ihren Wahnsinnskräften schon längst dem Spuk des überirdischen Tyranns ein Ende gemacht. Aber auch die schwarzhaarige, kluge, irdisch aussehende Ea zieht schließlich mit Köpfchen die Reißleine. Sie setzt den Rechner und damit ihren Papa Schachmatt. Die Flucht vor dem jetzt rasend wütigen Alten aus dem göttlichen Gefängnis gelingt ihr durch dieses große weiße Haushaltsgerät, das bevorzugt natürlich immer nur einzelne Socken frißt. Bestimmt hat dabei auch der da oben seine Finger mit im Spiel. Bei beiden Mädels ist das mit der Schulbildung so eine Sache. Pippi stellt das Einmaleins auf den Kopf und Ea leidet an einer starken Schreibschwäche. Deshalb verpflichtet sie den Erstbesten, der ihr nach der Flucht in Brüssel über den Weg läuft, zum Schriftführer für ihr brandneues Testament. Brandneu bedeutet hier, daß sie die ursprünglich 12 Apostel des Neuen Testaments um sechs weitere nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Apostel und Apostelinnen aufstockt. Den Tip, dem alten Neuen Testament auf diese Weise neues Leben einzuhauchen, bekommt sie von ihrer zeitweise wiederauferstehenden brüderlichen Jesusfigur. Von den testamentarischen Neuzugängen ist einer verkorkster und verkrachter als der andere und jeder für sich wäre schon für eine Geschichte gut. Die weise Ea zeigt jedem Einzelnen eine unglaubliche Möglichkeit auf, sich aus seinem Schlamassel zu befreien, und kennt dabei keine Tabus. Zudem schenkt sie ihnen Träume, fängt ihre Tränen ein, und findet für jeden eine passende Melodie. Besonders rührend kümmert sie sich um den sechsten Apostel, einen totkranken Jungen. Dieser wäre lieber ein Mädchen und möchte seine letzten Stunden unbedingt am Meer verbringen. Ea begleitet ihn und im Schlepptau haben sie einen Fisch, der die Melodie des Jungen, „La Mer“, blubbert. Der kleine Apostel kennt seinen Todeszeitpunkt auf die Sekunde genau, weil Ea ihm und allen anderen Menschen vor ihrer Flucht vom väterlichen Rechner aus eine SMS mit dem jeweiligen Todesdatum geschickt hatte. Über die Tragweite dieser Maßnahme beispielsweise für mich und die Menschheit im Allgemeinen möchte ich nicht einmal nachdenken. Jedenfalls strömen immer mehr Menschen zu dem Strand ans Meer, wo die apokalyptische Stimmung immer wieder vom Blubbergesang des Fisches aufgeheitert wird. Die Rettung ist der plötzliche aufkeimende Putzfimmel von Frau Gott, die nach getaner Arbeit die Welt macht, wie sie ihr gefällt. Sie beschränkt sich allerdings auf das Design. Für den göttlichen Strippenzieher a. D. haben sich die Filmemacher zu guter Letzt eine besonders witzige Quasi-Rache Gottes auf Erden ausgedacht. Besonders beneidete ich Pippi damals um ihr Äffchen und das große weiße Pferd mit den schwarzen Tupfen. Zur gleichen Zeit eroberten zwei Stuttgarter Schwaben, das Äffle und das Pferdle, in den Pausen zwischen den Werbespots des Süddeutschen Rundfunks die Herzen der badischen und schwäbischen Fernsehzuschauer. Das Äffle schwäbelt beispielsweise „I glaub, mi tritt e Pfärd“, „Noi noi, des Äffle isch net dahoim“ und liest mit rollenden Augen als Nachrichtensprecher „Wetter… gibt’s heut koins“. Koi Hörfilmbeschreibung hat’s auch beim Brandneuen Testament gäbe. Meine Freundin Pascale hat mir, wenn sie nicht gerade in sich hineingeknickert hat, so viele Bilder wie möglich beschrieben. Davon gab es mehr als genug. Aber ich hatte auch

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James Bond 007: Spectre

„Je suis Paris!“ Am Montag, dem 16. November 2015, um 12.00 Uhr verstummte für eine Minute mein Radio als einzige Geräuschquelle. Wer sich nicht an die zum Gedenken an Paris europaweit ausgerufene Schweigeminute hielt, war mein Handy, um mir idiotischerweise genau in diesem Moment seine Bildschirmsperre mitzuteilen. Ich fühle mich den Franzosen und Frankreich, das inzwischen meine zweite Heimat ist, von jeher sehr, sehr eng verbunden. Die Grausamkeiten vom letzten Freitag sind mir deshalb ganz besonders nahegegangen, auch wenn sich Ähnliches täglich irgendwo auf der Welt abspielt. Jeder hat wahrscheinlich schnell vor seinem geistigen Auge Revue passieren lassen, ob sich jemand aus dem Freundes- oder Familienkreis gerade in Paris aufhält. Ich mußte sofort an eine meiner besten Freundinnen denken, die beruflich während der letzten Woche auf einer Fotomesse in Paris zu tun hatte. Aber dank der sozialen Netzwerke bekam ich noch in derselben Nacht eine beruhigende Nachricht. Ans Schreiben meines Artikels über den aktuellen James Bond-Film war am Wochenende schon deshalb nicht zu denken, weil die Handlung teuflische Berührungspunkte mit den Ereignissen in Paris hat. Aber nichtsdesto- trotz…! „Spectre“, der Filmtitel, heißt übersetzt Schreckgespenst. Zugleich war das bereits in früheren Bond-Filmen die Abkürzung für die gegnerische Terrororganisation, „Special Executive for Counterintelligence, Terrorism, Revenge and Extortion“. Aktuell erfährt Bond erst später im Film, daß er dieses Mal vor der Organisation namens Spectre die Welt retten muß. Zunächst ist der Film mehr oder weniger ein Stummfilm. Zwischen fast martialisch und ohrenbetäubend lauter lateinamerikanischer Percussion ist gelegentlich ein undefinierbares Stimmengewirr zu hören. Nach einer gefühlten Ewigkeit fragt eine Frau mit südamerikanischem Akzent: „Wo gehst du hin?“ Die vertraute Stimme von James Bond antwortet. „Ich bin gleich wieder zurück!“ Ich denke, die Dame wartet heute noch. Kurz darauf gibt es noch ein paar Sätze auf Spanisch, einen mächtigen Knall, wieder Stimmengewirr und Motorengeräusche. Vom Nachbarsitz bekam ich zugeraunt, daß sich mit Totenmasken verkleidete Menschenmassen durch die Straßen einer mexikanischen Stadt in Richtung auf ein riesiges Stadion walzen. Genau dieses Stadion haben die spanisch Sprechenden im Visier, um es, natürlich erst wenn alle Menschen sich dort eingefunden haben, in die Luft zu jagen. Das ist das bei allen Bond-Filmen übliche Vorgeplänkel. Bevor es richtig zur Sache geht, hat der Titelsong seinen Auftritt und Sam Smith erhebt zu dramatischer, getragener Orchestermusik seine Stimme. Erheben kann hier wörtlich genommen werden. In dem Song „Writing’s on the Wall” singt er den höchsten Ton seiner bisherigen Karriere. Smith wollte ein dichterisch erzählendes Liebeslied und zugleich einen angemessen klassischen Bond-Song schreiben. Ersteres ist ihm gelungen. Wenn er auch den noch so hohen Ton trifft, erhebe ich den Song dennoch nicht in meine persönliche Bond-Song-Hitliste. Die wird angeführt von Adele mit „Skyfall“, Tina Turner mit „Golden Eye“, „Live and Let Die“ von Paul McCartney, „Dance into the Fire“ von Duran Duran und, der Erste soll der Letzte sein, „Goldfinger“ von Shirley Bassey. Daniel Craig hätte wohl gerne den Song aus dem Hause seiner Lieblingsband Radiohead gehabt. Nach jetzigem Stand wird er auch beim nächsten Bond-Film die Welt retten und vielleicht kann er sich dann mit seinem Wunsch durchsetzen. Der Songtitel „Writing’s on the Wall“ geht auf ein biblisches Motiv zurück und bedeutet ein unübersehbares Omen für ein drohendes und nur sehr schwer abwendbares Unheil, wie wahr! Um Klassen besser gefallen als der Song hat mir der Film. Ich mag, daß sich die Bond-Filme an eine gewisse Grundstruktur halten. Bond kommt nach dem Vorgeplänkel in seine Befehlszentrale, flirtet mit Moneypenny, bekommt von M meistens zuerst einmal eins auf den Deckel und wird von Q mit höchstraffiniertem technischen Schnickschnack und nicht ganz freiwillig den tollsten Autos ausgestattet. So ist es auch dieses Mal. Um während des Vorspiels die Katastrophe von den Stadionbesuchern abzuwenden, sprengt Bond einen ganzen Häuserblock inklusive der spanisch sprechenden Terroristen in die Luft. Das gibt international mächtig Ärger! Viele krachende Geräusche erklären sich erst im Nachhinein im Gespräch. Bei „Spectre“ muß sich Bond zunächst einmal selbst retten. Er soll wegen einer drohenden Fusion der konkurrierenden britischen Geheimdienste abgeschafft werden. Eine ganz wichtige Rolle im Film spielt ein Fingerring mit einem eingravierten Oktopus, dem Symbol der Spectre-Organisation. Da Ringe eher nicht sprechen, ist mir so ziemlich alles um dessen Bewandtnis entgangen. Bei einem Bond-Film im Kinosaal vom Nachbarn Informationen zugeflüstert zu bekommen, ist wegen des Geräuschpegels und der Ereignisdichte eine unmögliche Mission. Nächster Tage werde ich bei dem Verleih eine vorsichtige freundliche Nachfrage starten, wie es mit einer Hörfilmbeschreibung aussieht. Etwas Schlimmeres als eine Absage kann mir schließlich kaum passieren, aber vielleicht gibt es ja doch noch die Lizenz zum Hören! Entschädigt für das Fehlen der Audiodeskription hat mich die traditionell grandiose Bond-Filmmusik. Die Bläser kündigen bombastisch die unmittelbar bevorstehende Entladung einer dramatischen Situation an. Indes bauen die Streicher eine nervenzerreißende Anspannung auf und der heisere Triller einer Querflöte vermittelt etwas Verschwörerisches. Verfolgungsjagden werden meistens mit rasend schnellen Percussionwirbeln auf Congas begleitet. James hatte so viel zu tun, daß er kaum zum Trinken kam, und wurde sogar einmal mit einem alkoholfreien Getränk konfrontiert. Der Ekel in seiner Stimme war nicht zu überhören. Maßgeblich zum Gelingen seiner Mission tragen zwei Mäuschen bei, ein vierbeiniges und natürlich das zweibeinige Bond-Girl Madeleine Swann (Léa Seydoux). Im Film ist am Ende jedenfalls alles gut!!!

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A Perfect Day

Der perfekte Tag begann an einem totstillen, finsteren, naßkalten und beklemmenden Ort. Den Wechsel zwischen hell und dunkel auf der anfangs nur spärlich beleuchteten Leinwand konnte ich immerhin noch gut ausmachen. Wasserrinnsale plätscherten die nackten Wände herunter und ich war froh, in dem gut beheizten und trockenen Kinosaal zu sitzen. Die unheimlich hallende Akustik tat ihr Übriges, als Metall auf Metall stieß, und ich an einen unterirdischen und engen Raum mit hohen Wänden denken mußte. Getippt habe ich auf eine Kanalisation. Zum Glück konnte sich die Idee nicht durchsetzen, den Filmgenuß im Kinosaal noch mit den entsprechenden Düften zu steigern. Aber ich hatte mich vertippt. Es ist ein Brunnen. In den ist zwar kein Kind gefallen, aber ein Mann geworfen worden. Der Mann ist tot, das erklärt schon einmal den fehlenden Dialog. Gesprochen wird erst, als das Tageslicht die Leinwand erhellt. Um den Brunnen herum beratschlagen die Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation (NGO), wie der leblose bereits verwesende Körper schnellstmöglich geborgen werden kann. Ansonsten stünde die Trinkwasserversorgung aller Bewohner eines Dorfes irgendwo in Bosnien auf dem Spiel. Beim ersten Versuch ist der Tote der Stärkere, genauer gesagt der Schwerere, und entscheidet die Zerreißprobe des einzigen weit und breit aufzutreibenden Seiles für sich. Die Helfer brauchen ein Zweitseil, das dem Fettsack, wie sie ihn nennen, standhält. Ihre abenteuerliche Autofahrt durch das bergige unwegsame Bosnien auf der Suche nach einem tauglichen Seil zieht sich ab jetzt als roter Faden durch das Filmgeschehen. Zeitlich fällt die Seilsuche in das Jahr 1995, in dem die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe unter den sechs jugoslawischen Teilrepubliken nach drei Jahren ein Ende fanden. Ein Ende fand damit auch die 1945 ausgerufene Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien. „Jugo“ heißt übersetzt Süden, die Slawen sind slawischsprachige Volksstämme und fertig war das Kunstgebilde Jugoslawien: Ein Mix unterschiedlichster ethnologischer und religiöser Volksgruppen, deren einzige Gemeinsamkeiten die südliche geographische Lage und die slawische Sprache waren. In dem Gebiet des heutigen Staates Bosnien-Herzegowina wüteten die Kämpfe besonders lange und grausam. Deshalb stationierte man zur Sicherung des Friedensprozesses die IFOR und verschiedene Hilfsorganisationen versuchten, das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern. Auf die Seilsuche begeben sich die prominent besetzten NGO-Mitarbeiter Mambrú (Benicio del Toro), B (Tim Robbins) und Sophie (Mélanie Thierry). Später gesellen sich noch Katya (Olga Kurylenko), ein Dolmetscher und ein kleiner einheimischer Junge zu der Seilschaft. So wie bei „Er ist wieder da“ der gleichnamige Hit von Marion Maerz aus der Versenkung geholt wurde, hätte das hier mit dem Song „Perfect Day“ von Lou Reed aus dem Jahr 1972 wiederholt werden können. Aber „Hätte, hätte, Fahrradkette“, ein Zitat des Genossen Peer Steinbrück aus seiner Zeit als Kanzlerkandidat! Lou Reed besingt in “Perfect Day” seinen höchstpersönlich perfekten Tag, leider ohne zu verraten, wer oder was genau diesen Tag so perfekt macht. Im Film wird dank des Jungen, der die NGO-Leute zu seinem verlassenen Elternhaus führt, das perfekte Seil für den zweiten Versuch gefunden. Problematisch ist nur, daß das Seil an einer Seite irgendwo angebunden ist, während an dem anderen Ende ein gefährlich bellender wütender Hund hängt. Im nächsten Moment macht das Helferteam in dem ziemlich zerstörten Haus einen grausigen Fund. Die Figuren nehmen den Zuschauer mit in ihre ständig wechselnden Gefühlslagen und es wird einem nichts erspart. Oft kann man sich bei den grotesk komischen Situationen auch das Lachen nicht verkneifen. Begleitet werden die Protagonisten von der perfekt ausgewählten und immer passenden Musik. Lou Reed singt zwar nicht solo, ist aber einige Male als Sänger und Mitbegründer der Band „The Velvet Underground“ zu hören. Die psychedelischen, ruhigen und leisen Klänge werden je nach Stimmung des Filmes vom lauten, chaotischen, fast zerstörerischen Punkrock der Ramones, von Marilyn Manson oder den Buzzcocks abgelöst. Dazwischen ist wieder der melodischere Gesang von Gogol Bordello mit einem leicht folkloristischen Einschlag zu hören. Ein außergewöhnlicher Film verlangt eben nach der entsprechenden Musik. Ein Tag ist für die Helfer wohl schon dann perfekt, wenn sie nicht auf eine der vielen Landminen auffahren, nicht von marodierenden Soldaten überfallen werden, und trotz aller bürokratischen Hindernisse wenigstens ein bißchen helfen können. Dem spanischen Drehbuchautor und Regisseur Fernando León de Aranoa ist es gelungen, solch einen perfekten Tag so glaubhaft und traurig wie leise und humorvoll zu zeigen. Die Romanvorlage zum Film stammt von Paula Farias, die in ihrem Buch „Dejarse Llover“ (Laß es regnen) über ihre eigenen Erfahrungen als Mitarbeiterin von „Ärzte ohne Grenzen“ schrieb. Der Film entläßt das liebenswerte Helferteam mit dem Auftrag, sich um die verstopften Latrinen in einem eilig errichteten Flüchtlingslager zu kümmern. Ich konnte noch einmal aufatmen und die gute Luft im Kinosaal einatmen. Popcorn statt Latrine! Was für ein perfekter Kinoabend!

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Ein Berliner Zeitungskiosk mit gelber Holzfassade und einer gelbgestreiften Markise. Der Verkäufer sieht aus der geöffneten Ladenluke in Richtung eines Mannes, der mit aufgerissenen Augen auf die Zeitung in seiner Hand schaut. Der hat ein Hitlerbärtchen. An seiner Uniformmütze eine goldene Kordel. An der Mütze und am Ärmel seines grauen Uniformmantels trägt er das Emblem des Reichsadlers.

Er ist wieder da

Schon vor 50 Jahren konnte die deutsche Schlagersängerin Marion Maerz in der ZDF-Hitparade ein Lied davon singen, daß er wieder da ist. Damals schüttete sie zu der moll-lastigen Melodie ihr Herz natürlich nicht über den da aus, der sich gerade durch die deutsche Kinolandschaft demagogisiert, sondern über den da, der zwar wieder da ist, aber leider eben nicht bei ihr. Jetzt ist ihr größter Hit wieder da, weil die Filmemacher von „Er ist wieder da“ die letzten Filmminuten mit genau diesem gleichnamigen Schlager ausklingen lassen. Da liegt er also plötzlich im Sommer 2014 rücklings wie ein gestrandeter Maikäfer, auferstanden aus Ruinen, in seiner ramponierten Nazi-Uniform auf dem Boden irgendeiner Berliner Baulücke. Wer eigentlich? Es ist der da, der sich am 30. April 1945 feige und selbstbestimmt im Führerbunker ins Jenseits beförderte. Nach dem Motto „Totgeglaubte leben länger“ ist der Führer als 56-jähriger wieder da und staunt genauso wie die Zuschauer, wie das vonstatten gegangen sein könnte. Er stellt schnell fest, daß er der einzige des Naziregimes ist, der wieder da ist, und begreift so nach und nach, in welche Zeit es ihn katapultiert hat. Aber Hitler kapituliert vor den damit verbundenen Herausforderungen genauso wenig, wie er 1945 einer Kapitulation des deutschen Reiches zustimmte. Er beginnt, Kapitel für Kapitel die Veränderungen seiner Umwelt seit der Kapitulation zu entdecken, interpretiert diese für sich aber recht eigenwillig. Beim Verzehr eines Müsliriegels, wie er meint „gepreßtes Korn“, schließt er auf immer noch bestehende Versorgungsengpässe. Wegen der auffälligen Präsenz türkischer Landsleute stellt er zunächst wohlwollend fest, daß der einst unentschlossene türkische Kriegsverbündete dem Deutschen Reich doch noch zu Hilfe gekommen sein muß. Bei seinem Rundumschlag durch die politische Landschaft stellt er allen außer den Grünen ein gleichermaßen vernichtendes Urteil aus. Wenn überhaupt, ist es die grüne Landschaftspfleger-Partei wert, ihm bei seiner erneuten Machtergreifung Hilfsdienste zu leisten. Die teuflisch gute Idee, die Zustände des heutigen Deutschland aus der Sicht dieses kranken Hirns zu analysieren, hatte der deutsche Journalist, Buchautor und Übersetzer Timur Vermes. In seinem 2012 erschienenen Buch „Er ist wieder da“ treibt Vermes diese Idee auf die Spitze. Er läßt Hitler vermeintliche Probleme erkennen, seltsame Lösungswege entwickeln und in Führermanier durchsetzen. Christoph Maria Herbst gelingt es in dem Hörbuch, die schauderhafte Stimme so gut zu imitieren, daß man meinen könnte, vor einem Volksempfänger dem neuesten Wahnsinn des Reichskanzlers zu lauschen. Im Film übernimmt Oliver Masucci die Führerrolle. Ihm gelingt es nicht nur, so schauderhaft zu sprechen, sondern auch noch so auszusehen, eben so wie in einer Ausgabe der Wochenschau 2014. Deshalb liegt sein Wiedererkennungswert bei allen, auf die er trifft, bei 100 Prozent, und weil nicht sein kann, was nicht sein kann, halten ihn alle für einen neuen, noch nicht entdeckten Kometen am Comedianhimmel. Recht schnell entdeckt ihn die Medienwelt als den größten Führerimitator und rock zock demagogisiert er vor laufenden Kameras in der Talkshow eines Privatsenders das Publikum. Demagogie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Volk und Führen. Der Demagoge in der Antike war ein angesehener Redner und Führer des Volkes bei politischen Entscheidungen. Ihren Höhepunkt erfuhr die Demagogie im 20. Jahrhundert als Mittel der Ideologisierung der Massen und das führte zu dem totalen Imageverlust des ursprünglich positiven Begriffs. Hitler war zu seinen eigentlichen Lebzeiten ein Meisterdemagoge und schürte aus Machtgier methodisch Emotionen und Vorurteile seiner Zuhörerschaft. Es ist mir ein Rätsel, wie er mit dem schrecklich gerollten r und seiner kehligen Brüllstimme, mit der er seine Schrecklichkeiten wortweise eher herausspuckt als spricht, die Massen so in seinen Bann ziehen konnte. In dem Kinderbuch „Urmel aus dem Eis“ gibt es einen See-Elefanten namens Seele-Fant. Er liegt den ganzen Tag einsam auf einer Eisscholle vor der Insel Titiwu und seine Lieder klingen deshalb besonders trübselig, weil er die Vokale umlautet, also verändert. Der Ex-Diktator hat einen verblüffend ähnlichen Sprachtick wie der traurige Seele-Fant. In der Jetztzeit genießt er in den Talkshows als vermeintlicher Imitator des Führers eine Narrenfreiheit, die er gnadenlos für seine Propagandazwecke ausnutzt. Den Verantwortlichen hinter der Kamera stockt schon manchmal der Atem, mir übrigens auch, aber man läßt ihn gewähren, wie damals! Als ob das nicht schon genug wäre, setzt der Regisseur und Drehbuchautor David Wnendt noch einen drauf! Das Hitler-Double wird, begleitet von dem Fernsehfritzen Sawatzki (Fabian Busch), auf das real existierende heutige deutsche Volk losgelassen. Von dem so gewonnenen Doku-Material werden ca. 25 Minuten in den Film gestreut. Was dabei herauskommt, reicht von unglaublich, erschreckend bis haarsträubend und ganz selten auch witzig. An dem einsamen Fremden neben mir im Kino konnte ich spiegelbildlich wunderbar das Wechselbad seiner und meiner Gefühle beobachten: Mal herzhaftes Lachen, dann das Lachen, das im Hals steckenbleibt, manchmal verzweifeltes Aufstöhnen. Als ob die Welt nicht schon mit den bedruckten Seiten namens „Mein Kampf“ genug gestraft wäre, beginnt Hitler, inzwischen recht gut mit der Errungenschaft des Computers vertraut, wieder, geduldiges Papier zu beklecksen. Unter der Federführung der Medienfrau Bellini (Katja Riemann), die er in einem Atemzug mit Leni Riefenstahl nennt, wird die Chose dann auch noch verfilmt. Ohne die Hörfilmbeschreibung über Greta, meinen Rettungsanker, hätte ich spätestens bei dem Film im Film den Überblick verloren. Aber gemeinsam haben wir das problemlos hinbekommen. Die Sprecherin bewahrte auch bei noch so absurden Turbulenzen mit ihrer wohltuenden Stimme die Ruhe und war immer zur richtigen Zeit mit den wichtigen Informationen zur Stelle. Verlassen habe ich das an einem sonnigen Sonntagnachmittag bis auf den letzten Platz ausverkaufte Kino mit einem lachenden und einem nachdenklichen Auge. Auf daß er niemals mehr da sein möge!

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Zwei an einem Abend – natürlich Filme!

Der kleinste gemeinsame Nenner der beiden Filme ist das Produktionsland USA und daß eine der Hauptrollen von der Musik gespielt wird. Zuerst gab es ein chorales „Halleluja“ in Weiß und danach ein schwarzes gerapptes „Fuck Tha Police“. Genauso unterschiedlich wie die Filme war das Publikum, nur ich war beide Male dieselbe. In „Der Chor – Stimmen des Herzens“ durfte ich mich zu den Jüngeren zählen und die meisten verließen ergriffen flüsternd den Kinosaal. Nach einer einstündigen Pause saß ich wahrscheinlich als Älteste bei „Straight Outta Compton“ unter Hip-Hop- und Rap-begeistertem Jungvolk, das entsprechend geräuschvoll nachts gegen 02.00 Uhr mit mir mitten drin ins Freie strömte. 1741 schrieb der deutsch-britische Komponist Georg Friedrich Händel das dreiteilige Oratorium „Messias“ in A-Dur und D-Dur für Solisten, Chor, Orgel, Cembalo und Orchester. Mit genau diesem englischsprachigen Werk tritt einer der besten Jugendchöre der Welt, der US-amerikanische „National Boychoir“ bei einem Wettbewerb gegen seine internationale Konkurrenz an. Im zweiten Teil des Messias singt der Schlußchor das wohl jedem bekannte „Halleluja“. Um die Chance auf den heißbegehrten ersten Platz zu erhöhen, peppt die Chorleitung dieses „Halleluja“ mit einem eigens komponierten Solo auf, in dem das eigentlich unerreichbare hohe D gesungen werden muß. Auf meiner Gitarre habe ich dieses hohe D vergebens gesucht, es läßt sich nur mit der Technik des Flageolett-Tones erzeugen. Sogar der weltberühmte italienische Tenor Pavarotti wurde als Meister „nur“ des hohen C gefeiert. Im Film gelingt es immerhin zwei der 12-jährigen Knaben, ihrer Kehle diesen Ton zu entlocken. Einer der beiden ist Stet, gespielt von Garrett Wareing. Nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter durch einen Verkehrsunfall muß nun sein Vater die Verantwortung übernehmen, nachdem er sich 12 Jahre lang auf das Ausfüllen von Alimentenschecks beschränkt hatte. Für den Vater ist Stet die etwas lästige Folge eines 12 Jahre zurückliegenden „Verkehrsunfalls“. Bei seiner Frau und den beiden gemeinsamen Töchtern hat er die Existenz eines Sohnes sicherheitshalber unter den Tisch fallen lassen. Glücklicherweise gibt es überall auf der Welt Schulinternate und die Abschiebung auf ein solches, am besten auf einem anderen Kontinent, scheint ihm eine elegante Lösung des Problems zu sein. Dank seiner herausragenden Stimme und seines finanzkräftigen Vaters erhält Stet die – wenn auch zähneknirschende – Zustimmung des Direktoriums zur Aufnahme in das Musikinternat an der Ostküste mit der renommiertesten Chorschule der USA. Ihm gelingt damit eine rasante Fahrt mit dem sozialen Aufzug nach oben. Im Internat legt er sich mit fast all seinen hochnäsigen Mitschülern an und revoltiert bis auf eine Ausnahme gegen die Lehrerschaft. Aber der Film lechzt nach einem Happy End und bekommt das auch, abgesehen von einem Wermutströpfchen. Für die vorhersehbare und flache Filmhandlung entschädigen die wunderschöne unter die Haut gehende Chormusik und der 78-jährige Dustin Hoffman als charismatischer Chorleiter. Der kanadische musikerfahrene Regisseur François Girard gewährt uns Einblicke in den Schulalltag und besonders den Musikunterricht der Jungs. Der strenge Chorleiter Carvelle triezt seine Schüler mit Atemübungen, mathematischen Formeln ähnelnder Musiktheorie und straff geführten Proben zu Höchstleistungen. Aber um welchen Preis? Die Uhr tickt für uns alle in jeder Hinsicht, aber für die Chorknaben rasen die Zeiger besonders gnadenlos auf den alles beendenden Stimmbruch zu. Stet gelingt das Unmögliche und er brilliert beim „Halleluja“ mit dem hohen D. Meine Mutter singt, solange ich zurückdenken kann, in einem Bach-Chor und hat meine Zweifel beseitigt, ob der Junge uns wirklich das hohe D gegeben hat. Allerdings muß solch eine außerordentliche Leistung nicht unbedingt mit dem entsprechenden Genuß für die Ohren einhergehen. Kaum war das „Halleluja“ mit dem hohen D verstummt, gab es lauten Gangsta-Rap und Hip-Hop auf meine beiden Ohren. Im rechten Ohr hatte ich zusätzlich die Hörfilmbeschreibung, die mich auch dank der ruhigen Stimme des Sprechers über dieses Chaos rettete. „Straight Outta Compton“ heißt nicht nur der Film, sondern ist auch der Titel des am 08.08.1988 erschienenen Erfolgsalbums des Hip-Hop-Kollektivs N.W.A aus Compton im südlichen Großraum von Los Angeles. N.W.A. steht für „Niggaz Wit Attitudes“. Attitude bedeutet Haltung, innere Einstellung, ein großes Wort für die teilweise recht fragwürdigen Inhalte, die in das Publikum gerappt werden. Der Regisseur F. Gary Gray läßt in 147 Filmminuten neun Jahre Revue passieren, in denen die Fünf der N.W.A.-Crew 1986 klein anfangen, zu Ruhm und viel Geld kommen, sich bitter zerstreiten und sich zu guter Letzt 1995 am Sterbebett von Eazy-E wieder annähern. Die anderen vier, noch unter den Lebenden verweilenden Gründungsmitglieder heißen Dr. Dre, Ice Cube, DJ Yella und MC Ren. Mit dem Skandalsong „Fuck Tha Police“ von 1988 trafen die Fünf den Nerv ihrer Generation, sie wurden schlagartig als Helden gefeiert und kamen quasi über Nacht zu Geld und Ruhm. Nicht unerheblich verdanken sie diesen Erfolg der freundlichen Unterstützung durch das FBI, weil es das Zurückziehen der Platte erreichen wollte. Das Thema weiße Polizeigewalt gegen, wie darf ich eigentlich sagen, Farbige, ist heute leider immer noch aktuell. Aber die erste Filmszene, in der ein panzerähnliches Gefährt die Fassade eines Hauses niederwalzt, um ein vermutetes Drogengeschäft aufzudecken, ist so hoffentlich heute nicht einmal mehr in den USA möglich. Die unterschiedlich fließenden Geldströme führen recht schnell zu heftigen Streitereien und schließlich zum Bruch, was vor allem und wie auch eine Menge der Kohle auf das Konto des zwielichtigen Musikmanagers Jerry Heller geht. Während der gesamten Filmzeit lag immer eine Spannung in der Luft, die sich jederzeit zu einer saftigen Prügelei mit viel Scherben und immer einer Schnapsflasche in der Hand entladen konnte und auch entladen hat. Das weibliche Geschlecht übernimmt bis auf wenige Ausnahmen den Part, barbusig zur allgemeinen Erheiterung beizutragen. Obwohl immer mindestens drei Rapper gleichzeitig mit ihren kaum zu unterscheidenden Stimmen durcheinander quatschen, ist es den Hörfilmbeschreibern gelungen, das Chaos zu sortieren, bestimmt mit der einen oder anderen Schweißperle auf der Stirn. An meiner meist nur mäßigen Begeisterung für Rap und Hip-Hop konnte der Film nichts ändern und der Chorleiter Carvelle würde sich wahrscheinlich weigern, den Rap überhaupt als Musik durchgehen zu lassen. Aber die alte Volksweisheit „Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ trifft zumindest teilweise auch auf die fünf Rapper zu. Ich mag Filme, in

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Amy

Ach ja, Amy! Hätte ich doch die Chance genutzt und wäre damals, ich denke 2007, zu ihrem Konzert in das Berliner Tempodrom gegangen. Im Radio erfuhr ich, daß sie etwas fahrig und unkonzentriert wirkte, sie bekam aber dennoch eine wohlwollende Kritik. Eine Woche bevor sich Amy Winehouses Todestag zum vierten Mal jährte, kam am 16.07.2015 der Dokumentarfilm „Amy“ in die deutschen Kinos. Erstaunlicherweise kann der Film bis jetzt nur knapp 54.000 Besucher verbuchen, das liegt vielleicht an den sehr sparsam und zu ungewöhnlichen Zeiten angebotenen Vorstellungen. Außerdem gibt es den Film nur auf Englisch im Original mit Untertitel zu sehen. Am dritten Tag, Samstag abends um 23.00 Uhr, habe ich im ausverkauften Clubkino des Berliner Zoopalasts von Amy Abschied genommen. Das klingt vielleicht ein bißchen theatralisch, aber so war das eben. Ich hatte gehofft, viele ihrer Songs, und nicht nur die gängigen, noch einmal ganz bewußt genießen zu können, und wurde nicht enttäuscht. Bei ihrem Superhit „Back to Black” bekam ich schon immer beim ersten Takt eine Gänsehaut. Im Kino bei der tollen Akustik kam die Gänsehaut gleich bei der ersten der 128 Filmminuten und blieb mehr oder weniger bis zum Schluß. Neben vielen Wegbegleitern aus ihrem privaten wie musikalischen Leben kommt natürlich auch Amy selbst einige Male zu Wort. Ich bin immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich die Sprech- und Singstimmen, besonders die der Sängerinnen, klingen. Amy spricht eher leise in einer wesentlich höheren Tonlage als beim Singen, lispelt ein bißchen und ihre Stimme klingt sehr jung, ihrem zarten Alter entsprechend. Wenn sie aber mit ihrer schönen, kräftigen, klaren, tiefen Stimme ganz ruhig und fast schon ein bißchen abgeklärt ihre traurigen Texte vorträgt, denke ich eher an eine gestandene Frau mit großer Lebenserfahrung. Fast alle der Songtexte stammen aus ihrer Feder und sie meint, nur über Dinge schreiben zu können, die sie selbst erlebt hat. Da tun sich schon Abgründe auf. Insbesondere bei dem Titel „Back to Black“ hat sie, wie ich finde, einen Nerv getroffen. Wer ist nicht selbst schon mindestens einmal in seinem Leben back to black gegangen? Ganz wichtig war es ihr, als Jazzsängerin anerkannt zu werden. Die schönen und ganz schön traurigen Melodien nehme ich eigentlich nur wahr, wenn ihre dominante Stimme pausiert. Sie beherrscht perfekt die Kunst der musikalischen Pause. Eine Pause genau an der richtigen Stelle, nicht zu lang und nicht zu kurz eben nicht zu singen oder sein Instrument nicht zu spielen, ist mindestens genauso schwierig wie das Singen oder Spielen an sich. Amy verzichtet auf Füllsel wie schubidu, lalala und yeahyeahyeah und Backgroundsänger(innen) sind mir auch nie aufgefallen. Unmengen von Archivmaterial, zahllose Interviews mit Familie, Freunden und Vertrauten sowie von Freunden zur Verfügung gestellte Home Videos standen dem britischen Regisseur Asif Kapadia zur Verfügung. Er hatte die Qual der Wahl und mußte sich für die richtigen Ausschnitte entscheiden, um Amys grandiose wie traurige 27-jährige Biographie zu dokumentieren. Etwas Skepsis kam bei einigen Filmkritikern auf, weil auch der sehende Zuschauer gelegentlich nicht einmal das Gesicht des gerade Sprechenden zu sehen bekommt und so über dessen Identität im Dunkeln gelassen wird. Man könne so auch nicht an der Mimik beispielsweise die Aufrichtigkeit und Echtheit der Gefühle des Sprechenden erkennen. Das war für mich nichts Außergewöhnliches, da ich immer an der Stimme die Gefühlsregungen meines Gegenübers eruiere. Wegen meiner recht lausigen Englischkenntnisse hatte ich oft so meine Müh und Not, den Gesprächen bis ins letzte Detail zu folgen, besonders bei den teils nuschelnden Herren. Sicherheitshalber werde ich mir die DVD noch einmal zu Hause mit einem Zuflüsterer anschauen, der der englischen Sprache besser mächtig ist als ich, oder der mir die deutschen Untertitel vorliest. Aber mir kam es ja nicht darauf an, neue skandalöse Enthüllungen zu erfahren. Auch inwieweit ihr Vater sowie ihr langjähriger Freund und kurzfristiger Ehemann Blake Fielder-Civil an ihren Drogenproblemen und letztlich an ihrem Tod eine Mitschuld tragen, kann ich am allerwenigsten beurteilen. Das Wort „Mitschuld“ bedeutet ja auch, daß es dabei zumindest noch einen Rest Eigenverantwortung gibt. Einige ihrer Freundinnen aus der Zeit vor ihrer Karriere machten sich mit tränenerstickter Stimme Vorwürfe, Amy nicht oder erst viel zu spät geholfen zu haben. Aber all denjenigen, die Amy beim Auftaktkonzert ihrer Europatournee in Belgrad im Frühling 2011 auf die Bühne schleppten, gehören meterlang die Ohren langgezogen. Während der Autofahrt zum Londoner Flughafen lag sie im Koma, wurde in den Flieger verfrachtet und ist erst gegen Ende des Fluges ein bißchen zu sich gekommen. In Belgrad hat man sie einfach auf die Bühne gestellt. Als sie keine Silbe über ihre Lippen bekommt, wird sie vom enttäuschten und wütenden Publikum ausgebuht. Sie verläßt nicht nur für immer die Bühne, die Bretter, die die Welt bedeuten, sondern ungefähr zwei Monate später auch die Bühne des Lebens.

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