Toni Erdmann
Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muß sich der Berg eben zum Propheten bewegen. Der Prophet ist in diesem Fall eine Prophetin und heißt Ines Konradi. Die junge Frau, Mitte 30, lebt zurzeit in Bukarest, wo sie sehr erfolgreich als Unternehmensberaterin arbeitet. Der Berg, der sich vernachlässigt fühlt, ist ihr Vater Winfried Konradi, ein gerade pensionierter Musiklehrer mit viel Zeit. Also beschließt er, seine gestreßte Tochter zu ihrem Geburtstag mit einem Überraschungsbesuch zu beglücken. Der Papa hatte bei mir sofort einen „Stein im Brett“. Als er seinen altersschwachen Hund Willi partout nicht überreden kann, sich ins Haus zu bewegen, verbringt Winfried die Nacht gemeinsam mit dem Tier im Garten auf der Erde schlafend. Am nächsten Morgen liegt Willi tot unter einem Baum. Er hat sich und seinem Herrchen den schrecklichen letzten Weg zum Tierarzt erspart. Oft steht die Freude des Überraschers im umgekehrten Verhältnis zu der des Überraschten. So ist Ines, was die Reine, Heilige, Geweihte und Keusche bedeutet, nur wenig über das plötzliche Auftauchen ihres Vaters in Bukarest begeistert, wo er sich in ihr Privatleben und berufliches Umfeld einmischt. Zudem hat die Prophetin nach wie vor keine Zeit. Ihr Job besteht aber nicht darin, göttliche Botschaften zu verkünden. Sie versucht gerade, ihrem wichtigsten Kunden das von ihr ausschließlich unter irdischen Gewinnoptimierungsaspekten entwickelte Konzept als das Profitabelste zu verkaufen. Nach einigen Tagen scheint der Berg zu kapitulieren und den Rückzug anzutreten. Aber Winfried, der Friedensuchende, bleibt und schlüpft in die Identität des Toni Erdmann. Wahrscheinlich bin ich die Einzige, die mit Ion Tiriac, dessen Coach und Tennisfreund Toni Erdmann zu sein vorgibt, nichts anfangen konnte. Falls es noch jemandem so geht: Er ist inzwischen der reichste Mann Rumäniens und war einst ein sehr erfolgreicher Tennisspieler und Manager u.a. von Boris Becker. Mit der Figur Toni Erdmann kommt allmählich etwas Schwung in die festgefahrene Vater-/ Tochterbeziehung. Im vollbesetzten Kinosaal gab es Szenenapplaus für eine fast fünfminütige musikalische Einlage. Toni Erdmann am Keyboard und Ines, die er als die fabelhafte Sängerin Whitney Schnuck vorstellt, geben „The Greatest Love of All“ zum Besten. Nach einigen Takten beginnt Ines etwas unsicher zu singen, faßt dann immer mehr Vertrauen zu ihrer Stimme und wagt sich selbstvergessen und mit Inbrunst in die höchsten Tonlagen. Hinter Whitney Houston, die 1986 mit ihrer Coverversion dieses Songs einen Nummer-eins-Hit landete, braucht sie sich keinesfalls zu verstecken. Kaum ist der letzte Ton verklungen, erwacht sie wie aus einem Tagtraum und stürmt in ihr als reine Schlafstätte genutztes Appartement. Nachdem dort ein Cateringservice das Buffet für ihre Geburtstagsfeier aufgebaut und das Wohnzimmer mit etwas Deko wohnlicher gestaltet hat, ist es höchste Zeit, sich in das passende Party-Outfit zu stürzen. Das erweist sich als ein sehr verzwicktes und verwurschteltes Unterfangen und endet mit einem für ihre Gäste verblüffend minimalistischen Ergebnis. Minimalistisch war auch meine Hoffnung, die Hörfilmbeschreibung für Toni Erdmann in meinem Lieblingskino unkompliziert in mein Ohr geflüstert zu bekommen. Zwei Tage vorm Kinostart schien es noch gewiß, daß ich mir meine eigenen Bilder zum Film zurechtbasteln müßte. Im Nachhinein kann ich sagen, das wäre mächtig in die Hose gegangen. Ohne die Beschreibung der unzähligen visuellen Details, bei denen sich die Drehbuchautorin und Regisseurin Maren Ade natürlich etwas gedacht hat, hätte der Film in meinem Kopf mit dem auf der Leinwand wenig Ähnlichkeit gehabt. Problematisch wären auch die rumänischen nur mit Untertiteln versehenen Dialoge gewesen. Die sonst hilfreichen Geräusche hätten nicht einmal zum richtigen Rückschluß bei der einzigen und einzigartigen Sexszene geführt. Wie auch, wenn sich der weibliche Part mit ausreichendem Sicherheitsabstand und ohne einen Mucks von sich zu geben, die Sache mehr oder weniger genüßlich auf der Zunge zergehen läßt. Aber zu meiner sehr großen Freude hieß es dann doch noch: Daumen hoch für die App Greta und Starks! Dafür möchte ich mich hier herzlichst bei allen an diesem Entscheidungsprozeß Beteiligten bedanken! So konnte ich genauso oft lachen wie die anderen Zuschauer im Saal, wenn auch meist einen klitzekleinen Tick später. Schließlich mußte ich ja noch kurz der Audiodeskription lauschen. Ich hätte dem Berg (Peter Simonischek) und der Prophetin (Sandra Hüller) wie auch den anderen Filmfiguren noch viel länger zuschauen können, wie sie gemeinsam Maren Ades kritische Beobachtungen meist urkomisch, aber auch mit dem nötigen Ernst auf die Leinwand zauberten. Aber nach 162 Minuten hieß es dann doch: „Das Bild wird schwarz“!