Blind & Häßlich
„Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage!“ „Das Blindsein, spielen Sie das eigentlich nur?“ Als mich vor ca. zehn Jahren ein Berliner Taxifahrer mit dieser Frage irritierte, dachte ich, ich sei im falschen Film. Dabei war ich doch gerade erst auf dem Weg ins Kino, bewaffnet mit meinem weißen Langstock. Und genau das war das Problem, jedenfalls das des Taxifahrers. Diese Anekdote war für mich im doppelten Sinne eine einmalige. Weil sich allerdings das Gerücht bis heute hartnäckig hält, man könne nur sehenden Auges Spaß im Kino haben, werde ich nicht müde, immer wieder zu betonen: Das geht auch ausschließlich hörenden Ohres! Im Idealfall mit einer Audiodeskription, die dann über die App Greta zum Download bereitgestellt ist. Beides war zu meiner Begeisterung der Fall bei „Blind & Häßlich“ Oh je, schoß es mir bei dem Filmtitel erst einmal durch den Kopf! Was hat sich der Regisseur Tom Lass da bloß geballt für eine Filmfigur einfallen lassen? Aber wie bei „Dick und Doof“ verteilen sich die beiden Adjektive auf zwei paar Schultern. Die erste Eigenschaft schultert die 18-jährige Jona. Aber sie tut genau das, was mir der Taxifahrer damals unterstellt hat. Sie spielt das Blindsein nur. Nach der rechtlichen, etwas umständlich formulierten Definition ist blind, wer auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinse nicht mehr als zwei Prozent von dem sehen kann, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. Die inzwischen 24-jährige Naomi Achternbusch hat es in ihrem ersten Film als Jona gleich mit einer Doppelrolle zu tun. Sie switcht zwischen Blindsein und Nichtblindsein hin und her. Und das macht sie sehr überzeugend, gefühlvoll und kein bißchen peinlich! Denn das Blindsein spielen will gelernt sein. Dazu gehört, sich nach allen Regeln der Kunst mit dem weißen Langstock zu bewegen, immerfort zu schielen und nicht doch aus Versehen auf das Handy zu linsen, statt das Gequatsche der Voice Over-Stimme abzuwarten. Viel Beherrschung bedarf es bestimmt auch, dem Reflex zu widerstehen, mit den Pupillen der Hand zu folgen, die einem vor den Augen herumfuchtelt. Und immer den Ball flach halten, nie einfach losrennen oder eine Information nutzen, die einem eigentlich verborgen bleiben müßte. Die glaubwürdige Balance zwischen Souveränität und an Grenzen stoßen, die macht’s aus! Der Grund für Jonas Spiel ist ein ganz pragmatischer: Im Blindenwohnheim ist noch ein Zimmer frei! Irgendwo muß sie schließlich unterkommen, nachdem sie mit dem Auto ihrer Mutter von zu Hause nach Berlin abgehauen ist. Und ein WG-Zimmer zu ergattern, scheitert schon an den sehr abstrusen, aber amüsanten Bewerbungsgesprächen. Den Plan haben die beiden Kusinen Jona und Cecile gemeinsam ausgeheckt. Cecile, die bereits in dem Heim wohnt, könnte nur das Nichtblindsein spielen. Überlegungen, die Geschichte aus dieser umgekehrten, eigentlich sehr spannenden Perspektive zu erzählen, gab es anfangs tatsächlich, wurden aber wieder verworfen. Das Täuschungsmanöver wäre viel zu schnell aufgeflogen. Neben der irrwitzig komischen, unverkrampften und doch sensiblen Art und Weise, wie hier mit dem Thema Blindsein umgegangen wird, hat der Film noch eine zweite ganz große Stärke! Die heißt Clara Schramm, war bei den Dreharbeiten 16 Jahre alt und ist blind! Als Cecile hat sie mit ihrer natürlichen Art und ihrem sonnigen Gemüt sofort mein Herz erobert. Ihr ist es zu verdanken, daß die sehenden Zuschauer einmal realistische Einblicke in das Leben einer blinden jungen Frau bekommen. Von mir aus hätten das noch viel mehr sein können! Naomi Achternbusch vor der Kamera und Jona im Film waren also in besten und professionellen Händen. Ihre erste Bewährungsprobe, die schneller kommt als gedacht, besteht Jona mit Bravour und rettet dabei auch noch Ferdis Leben. Jona hat natürlich die Selbstmordabsicht des verzweifelten jungen Mannes auf der Mitte einer der vielen Brücken Berlins erkannt. Wie angewurzelt bleibt sie neben ihm stehen. Sie behauptet stur, ihren Weg mit Ceciles reparaturbedürftigem Blindenführhund in die Hundeschule nur mit Ferdis Hilfe fortsetzen zu können. Denn sie sei ja blind. Der junge Mann willigt erst ein, nachdem Jona ihm beteuert, ihn nicht einmal ein bißchen sehen zu können. Ferdi hält sich nämlich für häßlich und glaubt, daß aus diesem Grund alle Frauen, die er anspricht, vor ihm Reißaus nehmen. Jetzt schöpft er aus Jonas Blindsein einen Hoffnungsschimmer und Jona selbst scheint der wirre junge Mann auch nicht ganz unsympathisch zu sein. Ferdi, gespielt von Tom Lass, ist natürlich genauso wenig häßlich, wie Jona blind ist. Das hat mir die sehr passend ausgewählte Sprecherin der Audiodeskription ins Ohr geflüstert. Ihre eher tiefere und reifer klingende Stimme hebt sich von denen der überwiegend jungen Filmfiguren sehr gut ab. So brachte sie etwas Ruhe und für mich viel Klarheit in das turbulente Geschehen. Ich hatte früher bei dem ein oder anderen Typen den Eindruck, daß er in meiner Sehschwäche einen Vorteil für sich sah, ähnlich wie Ferdi bei Jona. Allerdings nicht, um mich zur Hundeschule zu begleiten. Ich hatte gar keinen Hund! So nach dem Motto: Bei der kann ich es ja versuchen, die kriegt ja sonst keinen ab. Die habe ich alle sofort in die Wüste geschickt, kompromißlos auf den Richtigen gewartet, und der stand eines Tages vor meiner Tür! Obwohl ich im Kino lachen mußte wie lange nicht mehr, hat mich die Geschichte besonders wegen der Filmfigur der Cecile ganz schön aufgewühlt. Deshalb hat das Schreiben auch viel länger gedauert als gedacht. Jetzt lasse ich noch einmal den guten alten Shakespeare zu Wort kommen: „Menschen deuten oft nach ihrer Weise die Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn.“