Blog Blindgaengerin

Über mich

Am Anfang

Schlecht gucken kann se gut.
Das war auf den Punkt gebracht das Ergebnis diverser sich über ein Jahr hinziehender Untersuchungen, das meinen Eltern 1966 unterbreitet wurde. Kurz vor der Einschulung hieß es, die Blindenschrift müsse ich nicht lernen, aber der Besuch einer Sonderschule für Sehbehinderte sei unumgänglich. Stutzig wurden meine Eltern, daß mit mir etwas nicht stimmen könnte, als meine dreieinhalb Jahre jüngere Schwester im Vergleich zu mir Dinge optisch ganz anders wahrgenommen hat. Genauer gesagt, sie hat die Dinge überhaupt wahrgenommen. Die vielen Schnaken (Mücken) zum Beispiel, die von mir natürlich völlig ignoriert wurden. Ich hatte auch den „Tick“, alle Sachen, Geschenke, mit der Nase zu erkunden und bin viel gestolpert. Die ersten sechs Lebensjahre und davon drei in einem „normalen“ Kindergarten habe ich abgesehen von häufig aufgeschrammten Knien unversehrt überlebt. Fahrrad fahren, Rollschuh laufen, bevorzugt mit Jungs toben und auf Ski die ersten Hügel runterrutschen war ganz selbstverständlich. Meine Eltern haben auch nach der Diagnose glücklicherweise genauso weitergemacht wie bisher und mich ganz bestimmt nicht in Watte gepackt.

Schule

Meine schulische Karriere begann dann also auf der Sonderschule für Sehbehinderte in einem Vorort von Mannheim. Ohne die tägliche Hausaufgabenbetreuung durch meine Mutter während der vier Schuljahre hätte ich die für den Besuch eines Regelgymnasiums nötige Aufnahmeprüfung niemals nicht geschafft.
Ich war heilfroh, die Sonderschule verlassen zu können.
Wir, die Sehbehinderten, waren dort im Gebäude einer Regelgrund- und Hauptschule untergebracht und wurden in den Pausen auf dem Schulhof von den anderen Schülern als Sonderlinge gehänselt, ich habe mich ehrlich gesagt immer eher zu den „Anderen“ hingezogen gefühlt. Das Gymnasium konnte ich nach neun Jahren mit einem durchschnittlichen Abitur in der Tasche verlassen. Gelesen habe ich mit einer dicken Lupenbrille mit der Nase fast auf dem Papier, an die Tafel mit einem Fernrohr geschaut, von Mitschülerinnen die Hefte mitbekommen, und auch hier war meine Mutter oft im Einsatz, mir Texte auf Kassetten zu sprechen, meine ersten „Hörbücher“. Während der letzten Jahre bekam ich bei den Klausuren ein bißchen länger Zeit. Soweit ich mich erinnere, war ich die einzige Sehbehinderte auf dieser Schule. Das war für die Lehrer Neuland, sie zeigten sich im Großen und Ganzen kooperativ (z.B. Klausuraufgaben groß und deutlich schreiben). Ganz bestimmt konnte ich durch starken mündlichen Einsatz im Unterricht wohl so die eine oder andere Note etwas verbessern. Im übrigen genoß ich weder bei der Lehrerschaft noch bei den Mitschülern einen Sonderstatus und war im Klassenverband voll integriert.

Und danach?

Tontechnikerin, Dolmetscherin oder Logopädin waren meine favorisierten Berufsvorstellungen.
Im Bildungs- und Berufsförderungszentrum bei Heidelberg wurde ich eine Woche lang getestet. Bei den Testbögen kam es größtenteils auf schnelles visuelles Erfassen an. In der Testgruppe war ich die einzige Sehbehinderte, da kamen mir die ersten Bedenken über den Sinn dieser Prozedur. Die anschließend gestellte Frage nach meinen Berufswünschen war rein rhetorisch. Für Sehbehinderte war damals nur die Ausbildung zur Masseurin oder datenverarbeitenden Kauffrau vorgesehen, beides habe ich abgelehnt. Daraufhin habe ich mich kurz entschlossen und auch ein bißchen aus Protest an der Mannheimer Universität für Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben. Mittlerweile konnte ich mich Dank meines neuen Fernrohrlupensystems, ein kleines in ein Brillenglas eingearbeitetes Fernrohr, im Normalabstand zum Papier Wort für Wort durch die Texte arbeiten. Das war eine sehr große Erleichterung, nicht mehr krummbucklich über den Büchern kleben zu müssen.
Mein größter Fehler war, nicht immer gleich beim Kennenlernen neuer Leute über mein Handicap zu sprechen.
Beim Wiedertreffen in den Fluren habe ich natürlich nie auf ein Lächeln oder Winken reagiert. Ich war voll damit beschäftigt, geradeaus zu laufen und nicht über irgendwelche Stufen zu stürzen. Durch Zufall habe ich dann irgendwann erfahren, daß viele verunsichert waren, ob und wie sie auf mich zugehen sollten. Da ist mir das erste Mal klar geworden, daß ich immer gleich offen über mein „Problem“ sprechen muß. Das war neu für mich, weil in der Schule und in meinem bisherigen Umfeld wußten ja immer alle schon Bescheid. Als nächster Riesenfehler hat sich dann die Wahl BWL als Studienfach herauskristallisiert. Die Materie hat mich wenig interessiert, die Klausuren mit viel Mathematik habe ich nie bestanden, bis auf eine Klausur über die Grundzüge der Rechtswissenschaften. Mein Interesse für Jura war geweckt und das habe ich zum Anlaß genommen, mich für das extrem leselastige Fach an der Universität Heidelberg einzuschreiben.
Das war für mich in vielerlei Hinsicht ein Neustart.
Mit viel Glück konnte ich ein kleines Studentenzimmerchen (9 qm) in der Heidelberger Altstadt ergattern. Beim Kennenlernen neuer Leute habe ich immer gleich offen über mich erzählt. Schon nach einigen Tagen wußten alle in meinem Semester Bescheid und ich bekam Hilfe von allen Seiten! Heute übernimmt übrigens der weiße Langstock einen großen Teil der Erklärungsfunktion. Die Klausuren und Hausarbeiten fielen mir nicht leichter oder schwerer als den meisten Kommilitonen und ich konnte das Grundstudium in der vorgesehenen Zeit abschließen. Die sechs Semester waren trotz vieler Prüfungen eine sehr sehr lustige und unbeschwerte Studentenzeit, es blieb auch noch Zeit, bei den hochschulkosmopolitischen Prozessen mitzumischen.
Und dann wurde mir Heidelberg zu klein!
Weil ich noch keinen Koffer in Berlin hatte, habe ich selbigen gepackt und bin im Februar 1983 begleitet von Schnee und Blitzeis in einem VW-Käfer auf der Beifahrerseite in Berlin eingeschlittert. Meine Eltern haben mich ziehen lassen und waren nach wie vor immer für mich da. Aber ich habe bestimmt für die eine oder andere Sorgenfalte gesorgt. Zusammengefaßt war Berlin für mich ein so schönes wie anstrengendes Abenteuer, und ich mußte diesen folgenreichen Entschluß keine Sekunde bereuen. Dabei ist natürlich auch wichtig, daß ich mein Herz in Berlin verloren habe, und das bis heute!!! An der FU Berlin kam ich gleich gut zurecht und habe sowohl an der Uni als auch sonst schnell Anschluß gefunden. Nach dem zweiten mißglückten Versuch, das erste Staatsexamen erfolgreich abzuschließen, habe ich aufgegeben. Was mich ein bißchen ärgert, ist, daß beim ersten Mal nur ein erbärmlicher Punkt zur Zulassung zum Mündlichen fehlte, beim Mündlichen hätte ich mich bestimmt irgendwie durchgewurschtelt. Der sich über ein halbes Jahr hinziehende Prüfungsstreß hat mich körperlich wie moralisch beinahe zum Kollaps gebracht, bis dann endlich der erlösende „Blaue Brief“ ins Haus geflattert kam. Beim zweiten Anlauf hatte dann auch deutlich mehr als nur ein Punkt gefehlt. Zuerst habe ich mich in die seit längerem vernachlässigte Haus- und Gartenarbeit gestürzt. Einfach nur mit den Händen arbeiten, im Garten buddeln, schnibbeln, Unkraut (und manchmal auch mehr…) vernichten. Ich war sehr viel zu Hause, worüber sich auch unser Kater gefreut hat, und so kam es, daß der Fuhrbetrieb, den mein Freund kurz zuvor als zweites Standbein gegründet hatte, durch meine Telefonpräsenz so nach und nach expandierte. Plötzlich war ich die Büro- und Telefonzentrale, also in meinem Element, telefonieren, disponieren, organisieren, und das 10 bis 12 Stunden am Tag. Ein paar Jahre später haben wir den nervenaufreibenden Fuhrbetrieb gegen einen gemeinsam gegründeten Büroservice eingetauscht.
Jetzt war endlich Zeit, den Hobbys nachzugehen.
Wir nahmen gemeinsam Unterricht für akustische Gitarre und haben ziemlich schnell in einem Ensemble mitgespielt. Musik machen wie hören ist für mich unverzichtbar, und zwar von Rock bis Klassik, alles außer Reggae. Genauso unverzichtbar ist Sport, Schwitzen in einem Fitnessstudio, Schwimmen am liebsten im See oder Meer und Tandemfahren. Meine Augen haben sich allerdings über die Jahre heimlich unheimlich so verschlechtert, daß ich das Haus nur noch in Begleitung verlassen habe. Mit dem Lesen und Schreiben war auch Schluß. Mir blieb nichts anderes übrig, als im ABSV (Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin) ein Mobilitätstraining mit dem weißen Langstock zu absolvieren. Die Wege, die ich seit dem Training alleine gehe, sind zwar nicht mehr ganz so abenteuerlich wie früher, aber ich komme überall da hin, wo ich meine, hin zu müssen. Und das bestimmt auch sicherer. Dank des Signals des Stockes weiß doch jeder gleich Bescheid und hilft. Ich treffe fast ausnahmslos auf nette und hilfsbereite Menschen, das gilt auch für Berliner, sogar für Berliner Bus- und Taxifahrer, um hier einmal einem weitverbreiteten Klischee entgegenzutreten. Abgesehen von leichten Blessuren, meist durch Fallen, die ich mir im Alltag selbst gestellt habe, hatte ich nur einmal wirklich Pech. Die Kollision mit einem Fahrradfahrer endete für mich mit einem gebrochenen Sprunggelenk. Im Lauf der Jahre kamen als Aktivitäten noch das Auffrischen meiner Französischkenntnisse an der Volkshochschule und Percussion mit Djembé und Congas dazu. Daß ich jetzt gerade an meinem Laptop sitze und gefühlt meterweise Text produziere, funktioniert nur dank einer vor Jahren entwickelten und seitdem stets verbesserten Sprachsoftware. Ich kann wieder für den Rest der Welt leserlich schreiben.
Was ich nie verloren habe, ist meine Begeisterung fürs Kino.
Über den ABSV habe ich von der zunehmenden Produktion von Hörfilmbeschreibungen erfahren und mal wieder war mein Interesse geweckt. Immer wenn ein blinder Hörfilmbeschreiber gesucht wurde, habe ich mich sofort, aber leider bisher erfolglos beworben. Als im Dezember 2013 die Einladung zur „Weltpremiere“ der App von Greta und Starks kam, war ich natürlich dabei und habe Seneit Debese, die Frau hinter der Idee von Greta, und ihre App kennengelernt. Im Sommer 2014 habe ich einen Kinoerlebnisbericht mit Greta für das Magazin „Gegenwart“ des DBSV (Dachverband der Blinden- und Sehbehindertenvereine) geschrieben. Das fiel mir leichter als gedacht und hat auch noch Spaß gemacht. So langsam bin ich dann zu dem Entschluß gekommen, das zu tun, was ich gerade tue!!! Ja, so war und ist das, und jetzt mache ich erst mal einen Punkt.
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